Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Derisqhe Reich und seine einjelnen Glieder. (Dezember 10.) 421 
weiler, wo Militärpersonen durch flegelhafte Zurufe beleidigt wurden und 
wo das Militär daraufhin gezwungen war, zur Selbsthilfe zu greifen, 
fordere ich im Auftrage des Statthalters die besonnenen Bürger auf, 
gegebenenfalls dazu beizutragen, daß solche Personen dingfest gemacht 
werden usw. M. H., diese Aufforderung steht in einem sehr lebhaften 
Widerspruch mit der Aeußerung, daß er polizeiliches Einschreiten nicht für 
nötig gehalten hätte. Ja, zum Himmeldonnerwetter (stürmische Heiterkeit), 
wie ich Landrat war — — (erneute anhaltende Heiterkeit und Zurufe l.; 
lebhafte Rufe r.: sehr gut! — Glocke des Präsidenten). Vizepräsident 
Dr. Paasche: Herr Abgeordneter, auch solche Fluchworte sind bisher im 
Reichstag nicht üblich gewesen! (Heiterkeit.) Abg. Graf v. Westarp: M. H., 
ich hätte als Landrat, wenn das Militär dauernd beleidigt, beschimpft und 
belästigt worden wäre, allerdings früher ein polizeiliches Einschreiten für 
notwendig gehalten. 
Ich gehe nunmehr zu dem Beschluß vom 4. Dezember über. Dieser 
Beschluß hat im hohen Hause eine sehr verschiedene Auslegung erfahren. 
Zwei Auslegungen stehen einander schroff und unvereinbar gegenüber. Die 
Auslegung der Antragsteller von der sozialdemokratischen Partei ist uns 
gestern mitgeteilt worden. Darüber ist von vornherein kein Zweifel ge- 
wesen: nach dieser Auslegung sollte der Beschluß vom 4. Dezember die Auf- 
forderung an den Reichskanzler bedeuten, sein Amt niederzulegen. Infolge 
der Reihenfolge der Redner haben wir noch nicht gehört, ob die fortschritt- 
lichen Antragsteller sich auf denselben Standpunkt gestellt haben oder nicht. 
In der freisinnigen Presse ist dieser Standpunkt in verschiedenen Organen 
zum Ausdruck gekommen. Ich weiß nicht, ob Sie „Morgenpost“, „Frank- 
furter Zeitung", „Berliner Tageblatt“ in dieser Beziehung anerkennen. 
Ich könnte aus diesen freisinnigen Zeitungen und aus anderen freisinnigen 
Blättern, auch dem „Fränkischen Kurier“, Aeußerungen vorlesen, wo mit 
aller Entschiedenheit ausgeführt wird, das Mißtrauensvotum bedeute die 
Aufforderung an den Reichskanzler, sein Amt niederzulegen. M. H., die 
Nationalliberalen und die Herren vom Zentrum sind dieser Auslegung nicht 
gefolgt. Beide Parteien haben gestern erklärt, daß es sich für sie nur darum 
gehandelt hat, ganz speziell in der betreffenden Frage zu erklären, daß sie 
mit der Behandlung — — JIch scheine mich darin zu irren; ich habe die 
Erklärung auch der Herren vom Zentrum so aufgefaßt. Wenn ich mich 
darin irren sollte, würde es interessant sein, etwas Genaueres darüber zu 
erfahren. Ich war der Meinung, daß diese Parteien durchaus der Auf- 
fassung seien, es handle sich nur um eine Spezialkritik des Verhaltens der 
Regierung in der zur Erörterung stehenden Zaberner Angelegenheit. Wenn 
ich annehme, daß meine Gruppierung richtig ist, daß die Herren von der 
Sozialdemokratie und vom Fortschritt in dem Beschluß vom 4. Dezember 
ein Mißtrauensvotum, eine Aufforderung an den Reichskanzler, zu demis- 
sionieren, erblickt haben, die anderen Parteien nicht, so würde ungefähr 
die Hälfte der Stimmen der einen Auslegung gefolgt sein, die andere Hälfte 
der andern Auslegung. Nach der anderen Auslegung, die namentlich der 
Abg. Bassermann vertreten hat, bedeutete der Beschluß vom 4. Dezember 
nichts weiter als ein Urteil über die Zaberner Angelegenheit selber, einen 
ganz speziellen Ausdruck des Mißtrauens. Ein Urteil, das ohne Gründe 
verkündet worden ist, ein Urteil, über dessen Tenor sogar die verschiedenen 
Urteilsfällenden verschiedener Ansicht gewesen sind, ein Urteil über An- 
gelegenheiten, über die gleichzeitig ein gerichtliches und Verwaltungsverfahren 
schwebt, ein Urteil also über schwebende Angelegenheiten. M. H., ich werfe 
die Frage auf, ob ein derartiges Urteil den Auffassungen und Ansprüchen 
entspricht, die sie ebenso wie wir an die Unabhängigkeit der Gerichte, an
	        
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