Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

424 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 
gestern in so höhen Tönen die Konsequenzen verlangt hat, bereit ist, jetzt 
die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. — Kollege Frank nickt, und ich 
glaube, mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß er auf dem Stand- 
punkte steht: die Sozialdemokratie hätte die Pflicht, in solcher Lage auch 
ihrerseits zu zeigen, was sie kann. Aber ich weiß auch von anderen Ver- 
tretern der Sozialdemokratie, daß sie diese Ansicht nicht teilen, und daß 
Herr Kautsky und Frau Rosa Luxemburg ein solches Uebernehmen von 
Regierungsgeschäften kaum gestatten würden. Die 293 Abgeordneten, die 
dieses Votum abgegeben haben, das als ein Ausdruck des Mißfallens 
gegenüber dem Reichskanzler und seiner Politik anzusehen ist, haben damit 
bekunden wollen, daß sie Verletzungen der Verfassung, Verletzungen von 
Gesetz und Recht nicht dulden wollen, und daß sie eine Ahndung und 
Sühne für die Vorkommnisse verlangen, die in Elsaß-Lothringen festgestellt 
worden sind. Graf Westarp sagt, die 54, die nicht mitgestimmt haben, 
bildeten auch einen wesentlichen Teil des deutschen Volkes. Das will ich 
gar nicht verkennen, zumal ich den Einfluß der kleinen, aber mächtigen 
Kreise kenne, für die Graf Westarp hier gesprochen hat. Aber ich meine, 
er hat gar keine Veranlassung, stolz darauf zu sein, daß seine Freunde sich 
abseits gehalten haben, als es galt, vom deutschen Reichstag einen Urteils- 
spruch über Gesetzesverletzungen und über militärische Uebergriffe zu er- 
halten. Ich stelle noch eines fest — das kommt für uns nicht zuletzt in 
Betracht —: ich bin der Meinung, daß das Ansehen Deutschlands vor 
dem Auslande nicht gelitten hat, weil durch den Beschluß des Reichstags 
vieles wieder gut gemacht ist, was von militärischer Seite gesündigt worden 
ist. Die Elsaß-Lothringer wissen heute, daß die Mehrheit des deutschen 
Reichstags hinter ihnen steht, wenn die Gesetze verletzt, wenn sie in ihrem 
Rechtsempfinden gekränkt werden. Es ist richtig, was uns dieser Tage ein 
Parteifreund aus Straßburg bei einer politischen Veranstaltung in Berlin 
gesagt hat: daß der deutsche Reichstag und das Vorgehen unserer Partei 
vieles wieder gut gemacht hat, was von anderen Stellen verdorben worden 
ist. In dieser Auffassung werden wir die Entscheidung des Reichstags 
freudig verteidigen und sind der Meinung, daß sie vor dem Lande und 
vor der Geschichte bestehen wird. 
Was nun die auswärtige Politik im allgemeinen angeht, so muß 
ich sagen, daß gestern der Reichskanzler nicht viel Neues über tatsächliche 
Vorgänge auf dem Gebiete der auswärtigen Politik mitgeteilt hat. Er 
hat sich auf Allgemeinheiten und auf Andeutungen beschränkt, und ich darf 
annehmen, daß er gewillt ist, in der Kommission der deutschen Volks- 
vertretung etwas eingehenderen Aufschluß über manche bemerkenswerten 
Vorgänge auf dem Gebiete der auswärtigen Politik und die Haltung der 
deutschen Regierung zu geben. Wir haben den Eindruck, daß der Reichs- 
kanzler und seine Räte diese gründliche Aussprache in einer Kommission 
nicht zu scheuen haben. Wir erkennen an, soweit die in der Oesffentlichkeit 
bekannten Vorgänge ein Urteil gestatten, daß Ruhe und Besonnenheit die 
Handlungen der deutschen Politik geleitet haben, und daß eine sichere 
Hand in den Maßnahmen zu erkennen ist, die deutscherseits getroffen sind. 
Einer meiner politischen Freunde behält sich vor, unsere Anschauungen 
über den Gang der auswärtigen Politik noch näher darzulegen. Ich be- 
schränke mich für jetzt auf die Erklärung, daß meine politischen Freunde 
ihre Zustimmung aussprechen zu den Zielen der deutschen Auslandspolitik 
wie zu den Maßnahmen des letzten Jahres. Ich habe nur den Wunsch, 
daß die Wirkungen einer besonnenen, wohlüberlegten Auslandspolitik nicht 
beeinträchtigt werden durch impulsive Eingebungen und Kundgebungen, 
durch Verleihung von Orden und Titeln und Marschallstäben an fremde
	        
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