Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

30 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 23.) 
15. Jahre ausgesprochen werden kann? Selbst in Preußen ist die Schul- 
entlassung nicht einmal einheitlich durchgeführt! Für die Durchbrechungen 
der Schulpflicht aus gewissen Gründen herrschen die verschiedenartigsten 
Bestimmungen in den einzelnen Bundesstaaten. Ueber Klassenfrequenz herr- 
schen keine einheitlichen Bestimmungen, obwohl darüber nach den Grund- 
sätzen der Pädagogik längst einheitliche Normen aufgestellt worden sind. 
Ueber die Schulorganisation, ob ein sieben- oder achtklassiges Schulsystem 
vorzuziehen ist, über viele andere Fragen der Schulorganisation, herrschen 
die unglaublichsten Verschiedenheiten, die pädagogisch und schulorganisatorisch 
gar keinen Sinn haben. Die Fortbildungsschulpflicht ist in den einzelnen 
Ländern sehr verschieden gestaltet. Wir brauchen ein einheitliches Schul- 
wesen, wenn Deutschland nicht nur eine wirtschaftliche und politische 
Gemeinschaft sein soll, wenn wir es auch zu einer wirklichen Kultur- 
gemeinschaft gestalten wollen, wenn jeder Angehörige des Deutschen 
Reichs, der zur Ausübung des Wahlrechts berufen und zur Erfüllung 
seiner Wehrpflicht genötigt ist, diese Pflichten auch gewissenhaft aus- 
üben kann. 
Abg. Kückhoff (Z.): Ueber den Zweck des sozialdemokratischen An- 
trags ist eigentlich eben recht wenig gesagt worden. Wohl mit Absicht hat 
der Redner von der Sozialdemokratie nicht davon gesprochen, um mehr 
Freunde für seinen Antrag zu gewinnen. Aber ich möchte doch mit allem 
Nachdruck darauf hinweisen, daß der ganze Zweck dieses Antrags nicht 
etwa ist, überhaupt ein Reichsamt für alle Kultus- und Bildungsangelegen- 
heiten im Deutschen Reiche zu schaffen, sondern der Zweck dieses Antrags 
ist lediglich, den ersten Schritt zu tun, um zu einem großen Reichsschulamt 
zu kommen, durch das dann den Einzelstaaten die Kompetenz in Schul- 
fragen genommen und diese auf das Reich übertragen wird. Warum will 
das die Sozialdemokratie? Sie will dieses Amt nicht etwa zur Hebung 
des ganzen Schulwesens erreichen, sondern wesentlich dazu, um in der 
Gesetzgebung über unsere Schulangelegenheiten das Heft mehr in die Hand 
zu bekommen und auf diese Weise ihren Ideen bezüglich der Volkserziehung 
zum Durchbruch zu verhelfen. Etwas anderes habe ich in diesem Zu- 
sammenhang, was auch zur Kompetenz der Reichsschulkommission gehört, 
vorzutragen: es betrifft die Auslandsschulen. Nach dem Anhang zu 
Nr. 43 des Zentralblatts für das Deutsche Reich haben wir heute im Aus- 
lande neun höhere Lehranstalten, die die Berechtigung haben, das Zeugnis 
für den Einjährigfreiwilligendienst auszustellen. Wir haben in unseren 
Kolonien eine solche Schule, nämlich in Tsingtau; dazu wird in nächster 
Zeit noch eine in Südwestafrika hinzukommen. Aber es gibt außer diesen 
Schulen noch andere Schulen im Auslande, deren Zeugnissen später durch 
den Herrn Reichskanzler der Wert des Einjährigfreiwilligenzeugnisses zu- 
erkannt werden kann. Wir müssen nun mit allem Nachdruck darauf sehen, 
daß es sich in diesen Fällen tatsächlich um deutsche Auslandsschulen handelt 
und nicht etwa um Schulen für deutsche Schüler im Auslande, und da 
liegt eine große Gefahr vor. Ich habe es an einer Lehranstalt im Aus- 
lande feststellen können und möchte deren Verhältnisse als abschreckendes 
Beispiel ganz kurz Ihnen darlegen. Es gibt da eine Lehranstalt, die auf 
der Untersekunda eine Abgangsprüfung vornimmt, und dem Abgangs- 
zeugnis über diese Prüfung wird dann der Wert eines Einjährigfreiwilligen- 
zeugnisses zuerkannt. Diese Schule besteht im Auslande, ist aber nicht 
etwa nur von deutschen Schülern, deren Eltern im Auslande wohnen, be- 
sucht, sondern ist zu einem Viertel von Schülern besucht, die aus Deutsch- 
land stammen und deren Eltern in Deutschland wohnen. Nun fragt es 
sich: zu welchem Zwecke schicken deutsche Eltern ihre Jungen ins Ausland?"
	        
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