Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 427 
Hause anläßlich der Interpellation über die Moabiter Exzesse gesagt habe. 
Ich habe damals meine Meinung dahin ausgesprochen, gegen Auswüchse 
des Koalitionswesens kann nicht eingeschritten werden durch Ausnahme- 
gesetze, sondern nur auf dem Boden des gemeinen Rechts, und es darf 
dabei ein Einbruch in die Koalitionsfreiheit nicht erfolgen. Ich nehme an, 
nach den Aeußerungen, die bisher in diesem Hause gefallen sind, daß diese 
beiden Grundsätze die Zustimmung der bürgerlichen Parteien finden. Daß 
in die Koalitionsfreiheit nicht eingegriffen werden darf, ist selbstverständlich. 
Das Koalitionswesen ist eine Erscheinung, die bei uns ebenso gut wie in 
anderen Ländern durch die wirtschaftliche Entwicklung eine Notwendigkeit 
für die Arbeiterschaft wie für das Unternehmertum geworden ist. Es wäre 
ein ebenso aussichtsloses wie törichtes Unternehmen, durch Akte der Gesetz- 
gebung diese Entwicklung beschränken zu wollen. Aber das hindert uns 
nicht, Auswüchsen, wo sie konstatiert werden, und sie sind konstatiert 
worden, ich brauche mich darüber nicht des Näheren auszulassen, entgegen- 
zutreten. Gewiß, es muß durchaus paritätisch vorgegangen werden in 
dieser Frage. Das liegt schon im Grundsatz, den ich vorhin aussprach, daß 
auf dem Boden des gemeinen Rechts Abhilfe zu schaffen ist. Als Abhilfe 
ist vorgeschlagen worden, cinmal eine Revision der Strafgesetze und zweitens 
die zivilrechtliche Haftung der Koalitionen. Gegenüber der übergroßen Macht, 
welche die Koalitionen ausüben, nicht nur infolge der Anzahl ihrer Mit- 
glieder, sondern auch durch das große Vermögen, das sie besitzen, drängt 
sich von selbst die Erwägung auf, als Gegenstütze hierzu die zivilrechtliche 
Haftung eintreten zu lassen. Im Zusammenhang mit dieser Frage steht 
bekanntlich die Frage der Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, eine Frage, 
die zu lösen schon einmal gesetzlich unternommen worden ist, aber ver- 
geblich. IJch glaube auf keinen Widerspruch zu stoßen, wenn ich sage, 
daß diese Frage der zivilrechtlichen Haftung der Koalitionen, die Frage 
der Rechtsfähigkeit der Berufsvereine, so oft sie auch draußen und hier 
in haeihstage verhandelt worden ist, keineswegs zu einem gesetzgeberischen 
Akt reif ist. 
Was die Revision der Strafgesetze anlangt, so habe ich, als ich vor 
drei Jahren darüber sprach, darauf hingewiesen, daß die Kommission, die 
mit der Revision des Strafgesetzbuches befaßt wurde, der Ansicht sei, es 
müsse in dem revidierten Strafgesetz die Freiheit und das Selbstbestim- 
mungsrecht des Individuums schärfer geschützt werden als bisher. Es sind 
von den Kommissionen, wie ihnen bekannt sein wird, entsprechende Para- 
graphen in den jetzigen Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches ausgenommen 
worden. Daß dies geschieht, scheint mit eine Notwendigkeit. Als unser 
Strafgesetzbuch erlassen wurde, befand sich unser Koalitionswesen im Ver- 
gleich zu heute noch sehr in den Anfängen. Und als der Gesetzgeber die 
Paragraphen vom Schutz der persönlichen Freiheit schaffte, hatte er im 
wesentlichen im Sinne Angriffe auf die persönliche Freiheit des Indivi- 
duums durch ein drittes Individuum, aber nicht Angriffe, die gestützt sind 
auf die Macht von Koalitionen. Wenn nun die tatsächliche Entwicklung 
uns gezeigt hat, daß die Freiheit des Individuums jetzt in anderen Formen 
als früher und auch von anderen Subjekten, von den Koalitionen, bedroht 
wird, so muß die Gesetzgebung diesem Gang der tatsächlichen Entwicklung 
folgen. Das halte ich für eine Notwendigkeit; dieser Notwendigkeit muß 
in einem revidierten Strafgesetz Rechnung getragen werden. M. H., ich 
möchte, wenn ich das sage, aber doch glauben, daß man sich täuscht, wenn 
man dieser Revision des Strafgesetzbuches eine gar zu große Wirkung zu- 
schreibt. Die Erfahrung hat uns gezeigt, daß, wenn jetzt der Terrorismus 
nicht überall und nicht genügend gefaßt wird, das in unzähligen Fällen
	        
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