Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 429
man beschwert sich über Unklarheiten darin, sondern sie wird uns auch
die Grundlagen für die weitere Behandlung dieser wichtigen Frage liefern.
Ich muß des weiteren auch auf die Kritik eingehen, die gestern
Abg. Bassermann und heute Frhr. v. Gamp, wenn auch nur in verhältnis-
mäßig kurzen Worten, an der Haltung des Bundesrates in der braun-
schweigischen Frage geübt haben. Der Abgeordnete Bassermann hat dem
Bundesrat den doch immerhin recht schweren Vorwurf gemacht, daß er in
dieser jetzt abgeschlossenen, aber politisch wichtigen Frage, die im Laufe
dieses Sommers eine große Erregung der öffentlichen Meinung hervor-
gerufen hat (Lachen l., große Unruhe, Glocke des Präsidenten), der Abg.
Bassermann in dieser Frage dem Bundesrat einen Umfall vorgeworfen.
Aber ich halte den Vorwurf in keiner Weise für berechtigt. Bei diesem
Vorwurf wird übersehen, daß der Bundesratsbeschluß von 1907 so wenig
ein Definitivum hat schaffen wollen wie der Bundesratsbeschluß von 1885.
Beide Beschlüsse wollten und konnten im Hinblick auf die von niemand be-
strittenen Thronfolgerechte des welsischen Hauses in Braunschweig nur ein
Provisorium herstellen. 1885 und 1907 kam der Bundesrat zu dem Er-
gebnis, daß die Thronbesteigung des Herzogs von Cumberland in Braun-
schweig unvereinbar sei mit den Grundprinzipien der Reichsverfassung und
den ihr zugrunde liegenden Bündnisverträgen. Aenderten sich die Ver-
hältnisse, m. H. — und daß sie sich geändert haben, wird wohl von nie-
mand bestritten —, so entstand für den Bundesrat die Pflicht neuerdings
zu prüfen, ob diese Unvereinbarkeit noch fortbesteht. M. H., Wer jetzt dem
Bundesrat eine Inkonsequenz, einen Umfall vorwirft, weil er die Verzicht-
forderung, die 1907 aufgestellt worden ist, fallen gelassen hat, der kann
mit demselben Recht dem Bundesratsbeschluß von 1907 eine Inkonsequenz
gegenüber dem Bundesratsbeschluß von 1885 vorwerfen. Der Bundesrats-
beschluß von 1885 kennt nicht die Verzichtforderung als Voraussetzung der
Thronbesteigung in Braunschweig. Die Verzichtforderung ist im Jahre 1907
neu entstanden und zwar waren es damals tatsächlich vorliegende Verhält-
nisse, welche zu der Verzichtforderung geführt haben. Im Jahre 1906 und
1807 bot der Herzog von Cumberland für seinen Sohn, den Prinzen Ernst
August, der in Braunschweig den Thron besteigen sollte, den Verzicht auf
Hannover an. Dagegen sollte der älteste Sohn des Herzogs, der Prinz
Georg Wilhelm, nicht verzichten. Durch diese Unterscheidung konnte nur
der Eindruck erweckt werden — ob er gewollt war, lasse ich dahingestellt —,
daß gewissermaßen zwei welfische Linien gebildet werden sollten, eine, die
auf Hannover verzichtete und Braunschweig erhielt, also eine braunschwei-
gische, und eine andere, für die der Verzicht auf Hannover ausdrücklich ab-
gelehnt wurde und in der vermeintliche hannoversche Ansprüche fortleben
sollten. Diese unterstrichene Differenzierung war selbstverständlich nicht an-
nehmbar und hat zu der Forderung des Verzichts auch für alle Nachkommen
im Jahre 1907 geführt. Seit dem Tode des Prinzen Georg Wilhelm ist
der Prinz Ernst August der einzige Erbe des Welfenhauses und damit sind
die sachlichen Umstände, welche im Jahre 1907 zu der Verzichtforderun
geführt haben, fortgefallen. M. H.! Ich sagte schon, der Bunderatsbeschlu
von 1885 stellt den Verzicht nicht als Voraussetzung für die Thronbesteigung
in Braunschweig auf. Entscheidend für den Bundesrat im Jahre 1885 war
die Ueberzeugung, daß im Falle der Thronbesteigung des Herzogs von
Cumberland Braunschweig zum Sitze und Mittelpunkt der auf Lostrennung
Hannovers von Preußen gerichteten Umtriebe werden würde. Das war für
Bismarck und die verbündeten Regierungen allein das Entscheidende. Der
Fürstenhof eines Bundesstaates durfte nicht sozusagen das Hauptquartier
werden für Bestrebungen, welche gegen einen anderen Bundesstaat gerichtet