Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 23.) 31
Da kann ich nur sagen: das geschieht vielfach deshalb, weil diese Jungen
bei uns auf einer höheren Lehranstalt nicht weiterkommen konnten. Man
schickt sie dann ins Ausland, wo sie gegen einen Pensionspreis von 2000
Mark und mehr ausgenommen werden, um dann dort mit Leichtigkeit zum
Einjährigfreiwilligenzeugnis zu gelangen.
Abg. Dr. Kerschensteiner (Fortschr. Vp.): Ein Reichsschulamt mit
oder ohne legislatorische, administrative und disziplinäre Befugnis ist nun
keineswegs eine neue Forderung, keineswegs eine Forderung der sozial-
demokratischen Partei, auch keineswegs eine Forderung der liberal-demo-
kratischen Bürger im Deutschen Reich. Wenn Sie die Geschichte dieses
Antrags etwas verfolgen, dann werden Sie eine sehr interessante Be-
obachtung machen. Ich will ganz davon absehen, was für Forderungen
einzeine Schulmänner oder Volkswirtschaftler oder Politiker vor dem Jahre
1870 in dieser Sache erhoben haben; aber ich möchte doch auf die bald
darauffolgende Zeit aufmerksam machen. Im Jahre 1873 findet unter
dem Vorsitz des Grafen v. Stolberg-Wernigerode ein Kongreß für länd-
liche Arbeitgeber statt. Gutsbesitzer Knauer (Gröbers) verlangt auf ihm in
einem großen Referat über Landflucht eine einheitliche Reichsschulgesetz-
gebung. Hört! hört! I.) Dieser Kongreß für ländliche Arbeitgeber hat sich
mit diesem Antrag eingehend befaßt, ist aber zu einem endgültigen Re-
sultat nicht gekommen. Im Jahre 1874 wird im Reichstag eine mit
Tausenden von Unterschriften bedeckte Petition eingebracht mit der Bitte,
Gesetze und Einrichtungen zu schaffen, welche eine allen billigen Anforde-
rungen entsprechende Schulverwaltung gewährleisten auf dem Grunde kom-
munaler Selbstverwaltung unter Mitwirkung der gesetzlichen Verwaltungs-
organe der Bundesstaaten und unter Ausschluß jeder zentralistischen Ent-
wicklung des Schulwesens, aber mit einer straffen Reichsschulgesetzgebung
und einem die Ausführung desselben verbürgenden Reichsschulbudget. Re-
ferent war damals Herr v. Schulte, Korreferent war Herr Rußwurm, alles
bekannte Parlamentarier, und bei der Kommissionsberatung war damals
anwesend der Kommissar des Reichskanzleramts Herr Dr. Nieberding. Sie
sehen also, daß diese Frage nicht bloß links in diesem Hause, sondern auch
rechts in diesem Hause schon eine ganz wesentliche Rolle gespiepielt hat. Von
dieser Zeit, von den Jahren 1873 und 1874 ab bis auf die letzten Jahre,
haben sich dann die Lehrervereine mit dieser Sache befaßt, ursprünglich in
dem radikalen Sinne einer einheitlichen Reichsschulgesetzgebung, nachher
aber in einem immer weniger radikalen Sinne, und heute stehen sie auf
dem Standpunkt, daß wir eines Reichsschulamts bedürfen, das keine legis-
latorischen, administrativen und disziplinären Befugnisse hat. Dann kam
im Jahre 1903 der Oberstudiendirektor Dr. Julius Ziehen, damals Direktor
des Königlich preußischen Kadettenkorps, der einen weitgehenden Vorschlag
auf Gründung eines Reichsschulmuseums mit Reichsschularchiv, mit graphi-
schen Sammlungen, mit Bibliotheken für das Schul- und Erziehungswesen und
ahnlichen Dingen machte. Dann wieder — und das ist für Sie wieder
sehr interessant, weil Sie gleich entnehmen können, daß es sich durchaus nicht
um einen Antrag liberal-demokratischen Charakters handelt — der bekannte
ausgezeichnete Philosoph Professor Friedrich Paulsen, den wir Männer vom
höheren Schulwesen noch heute im höchsten Maße verehren, der einen ein-
heitlichen Oberschulrat in seinem Werke „Das deutsche Bildungswesen in
seiner geschichtlichen Entwicklung“ verlangt.
Es ist eine offenkundige Tatsache, vergleicht man die größeren Staaten
der Welt untereinander, oder vergleicht man wiederum die kleineren Staaten
der Welt untereinander, so zeigt sich, daß da, wo eine föderative Gestaltung
des Staates vorliegt und damit eine starke Dezentralisation des Schul-