Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

472 Die ästerreithisqh · nngarische Menarthie. (November 19.) 
von den Einwohnern erhoffte nationale Befreiung nicht überall erfolgt. Es 
gilt dies übrigens ebensosehr für das Ergebnis des Bukarester Friedens, 
wie für jenes der Londoner Botschafterreunion. Größere national geschlos- 
sene Gebiete sind unter die Herrschaft fremdsprachiger Nationalstaaten ge- 
stellt und die vielfach geübten summarischen Assimilierungsmethoden scheinen 
geeignet, eine Erregung zu erzeugen, die einer ruhigen Entwicklung nicht 
förderlich sein kann. Ein Beispiel hierfür gaben die serbisch-albanischen 
Kämpfe, die eine erschreckende Anzahl von Menschenopfern forderten und 
schließlich auf beiden Seiten eine tiefgehende Bitternis hinterließen. Die 
serbischen Uebergriffe auf albanisches Gebiet, welche die Absicht verrieten, 
durch Schaffung eines fait accompli die ohnehin für Albanien ungünstige 
Grenze noch mehr dem eigenen Geschmack anzupassen, veranlaßten uns, in 
Belgrad erst freundschaftlich, dann kategorisch die Räumung der widerrecht- 
lich okkupierten Gebiete zu verlangen, weil das Vorgehen Serbiens, einer- 
seits das neugeschussene Albanien in seiner Eristenz bedrohte und es an- 
dererseits mit dem Ansehen der Monarchie nicht vereinbar war, die Miß- 
achtung eines unter ihrer Mitwirkung zustandegekommenen internationalen 
Beschlusses hart an ihrer Grenze auf die Dauer zuzulassen. In kluger Ein- 
sicht der Unhaltbarkeit ihres Standpunktes willfahrte die serbische Regierung 
unserem Verlangen, wodurch weitere, unsererseits gewiß nicht erwünschte 
Komplikationen vermieden wurden. Die Ronstituierung des albanischen 
Staatswesens hat in der letzten Zeit, wenn auch langsam und unter Schwierig- 
keiten, doch erfreuliche Fortschritte gemacht. Dem endgültigen Beschiuß der 
Botschafterreunion über die Nordostgrenze folgte in der Schlußsitzung vom 
11. August die Festsetzung der Südgrenze, wonach Kap Phthelia gegenüber 
Korfu den einen, und das Albanien zugesprochene Gebiet von Koritza den 
anderen Endpunkt der südlichen Grenzlinie zu bilden haben, indes die Tras- 
sierung der letzteren selbst einer aus Delegierten der Großmächte zusammen- 
gesetzten Kommission anvertraut wurde. Diese Kommisfion, ebenso wie die 
zur Detailfirierung der Nordgrenze berufene internationale Kommission be- 
finden sich zurzeit an der Arbeit, und es steht zu hoffen, daß beide ihre 
Tätigkeit in nicht ferner Zukunft zum Abschluß bringen werden. Anderer- 
seits ist die mit der Ueberwachung der Verwaltung des Landes betraute 
internationale Kontrollkommission in Valona zusammengetreten und hat am 
17. Oktober die Eröffnungssitzung abgehalten. Schließlich hat sich die nieder- 
ländische Regierung bereit gesunden, zwecks Organisicrung der Gendarmerie 
Offiziere nach Albanien zu senden, die bereits eingetroffen sind. Unter diesen 
Umständen ist zu erwarten, daß das junge Staatswesen, welches in den 
abgelaufenen Monaten unter den allerungünstigsten Verhältnissen sich am 
Leben erhalten konnte und den Willen zum Leben zeigte, nunmehr einer 
besseren Zukunft entgegengeht, zumal begründete Aussicht vorhanden ist, daß 
auch die hochbedeutsame Fürstenfrage in allernächster Zeit eine befriedigende 
Lösung finden wird. 
Die nach dem ungünstigen Ergebnisse des Balkankrieges bewiesene 
Vitalität des osmanischen Reiches, welche sich in der Wiedergewinnung des 
östlichen Thraziens mit Adrianopel äußerte, läßt für dasselbe eine Periode 
der Konsolidierung und des Aufschwunges erhoffen, wofür der Wegfall der 
kostspieligen und stets gefährdeten mazedonischen Provinz yur förderlich sein 
kann. Durch den in jüngster Zeit geschlossenen Ausgleich mit Bulgarien, 
welchem jener mit Griechenland bald nachfolgte, wird die Pforte in die 
Lage versetzt, sich den großen Aufgaben der inneren Reorganisation zu 
widmen. Wir sind durch traditionelle freundschaftliche Beziehungen, wie 
durch vielfältige kommerzielle Interessen mit der Türkei verbunden und 
nehmen an ihrer Regenerierung lebhaften Anteil. Resumierend möchte ich
	        
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