Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

474 Vie äfterreithish-nngarishe Menarchie. (November 20. 21.) 
gegenüber die Pflege freundschaftlicher Beziehungen uns angelegen sein 
lassen und nicht minder bestrebt sein, ihren ökonomischen Bedürfnissen nach 
Möglichkeit, Rechnung zu tragen. Die territorialen Veränderungen haben 
auch die wirtschaftliche Stellung der einzelnen Balkanstaaten uns gegenüber 
sehr wesentlich verändert, indem jeder derselben infolge des ansehnlichen 
Wachsens von Territorium und Bevölkerung größere Bedeutung für den 
Warenverkehr, sowie erhöhtes Interesse vom Standpunkte wichtiger Ver- 
kehrsprobleme gewann. — Dem uns benachbarten Königreiche Serbien 
gegenüber erachten wir die Anbahnung guter wirtschaftlicher Beziehungen 
als Unterpfand eines freundnachbarlichen Verhältnisses. Von unserer Seite 
erhielt die serbische Regierung bereits derartige Mitteilungen und wir er- 
warten von derselben jetzt als Beweis, daß sie auch ihrerseits ein derartiges 
Verhältnis wünscht, jene Eröffnungen, welche zum Eingehen in die detail- 
lierten Erörterungen der gegenseitigen wirtschaftlichen Stellung zu führen 
geeignet sind. In dieser Voraussicht können wir die Hoffnung aussprechen, 
daß mit der Umgestaltung der Balkanhalbinsel eine neue Aera in unserem 
Verhältnisse zu den dortigen Staatswesen heranbrechen werde, eine Aera 
des engeren und lebhafteren wirtschaftlichen Verkehrs und vertrauensvoller, 
freundschaftlicher Beziehungen. Wir werden dieser Entwicklung am besten 
dienen, wenn wir uns politisch stetig konsolidieren und militärisch schlag- 
fertig halten. Darüber darf man sich keiner Täuschung hingeben, daß nur 
einträchtiges opferwilliges Zusammenarbeiten uns Macht, Ansehen und in 
der Stunde der Gefahr Sicherheit und Selbstvertrauen geben kann. Dann 
werden wir ungehindert die Segnungen des Friedens zu wirtschaftlicher und 
kultureller Entwicklung erwarten können und die ökonomischen Schäden wieder 
wettmachen, welche die völkergeschichtliche Umwälzung an unseren Grenzen 
naturgemäß zur Folge hatte. 
20. November. Laut Erlaß des Kriegsministers werden alle 
noch im aktiven Dienstverhältnis stehenden Ersatzreservisten der Jahr- 
gänge 1910 und 1911 in das nichtaktive Verhältnis versetzt. 
21. November. (Wien.) In der ungarischen Delegation erfolgt 
die Debatte über das Erposé des Grafen Berchtold. (Siehe 19. No- 
vember.) 
Berichterstatter Nagy erkannte die fast übermenschliche Hingabe in 
der Tätigkeit des Ministeriums des Aeußern für die Erhaltung des Frie- 
dens an und erklärte, der Ausschuß nehme die Erneuerung des Dreibundes 
mit großer Freude zur Kenntnis. Dies sei jedoch kein Hindernis, auch mit 
den Regierungen der zweiten europäischen Staatengruppe in gutem Ver- 
hältnis zu stehen. Die beträchtliche Verminderung der Spannung zwischen 
beiden Staatengruppen sei mit Freude zu begrüßen. Redner begrüßte auch 
die Aeußerungen des Ministers über Rußland und erklärte, der Ausschuß 
nehme mit Beruhigung das Expose an. Der Ausschuß möge unter voller 
Anerkennung der hervorragenden Verdienste des Ministers und im Ver- 
trauen auf sein weiteres Wirken das Budget genehmigen. 
Delegierter Graf Michael Karolyi (oppositionell) erklärte sich mit 
dem Exposé nicht einverstanden. Er vermisse besonders, daß in dem Ex- 
posé über den Bukarester Frieden nicht gesprochen werde. Um die optimistische 
Auffassung, daß sich nunmehr zwischen der Monarchie und den Balkan- 
staaten ein wärmeres Verhältnis entwickeln werde, beneide er den Grafen 
Berchtold. Er stimme ihm aber darin vollkommen zu, daß eine starke aus- 
wärtige Politik nur dann befolgt werden könne, wenn Oesterreich-Ungarn
	        
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