Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Großbritannien. (Februar 3. 10.) 495 
einstweilen in beiden Ländern unheilvolle Wirkungen gezeitigt. Vor 
30 Jahren sprach der Engländer deutsch, er kannte Goethe, Heinrich Heine, 
Gustav Freytag, und auch der Deutsche war mehr vertraut mit der eng- 
lischen Literatur und dem englischen öffentlichen Leben. Viele Engländer 
brachten ein paar Semester auf deutschen Universitäten zu. Wenn die inter- 
nationale Lage nicht so gestört gewesen wäre, so würden die beiden Völker 
sich dessen bewußt geworden sein, wie sehr sich die sozialen und wirtschaft- 
lichen Probleme in beiden Ländern ähneln. Gleich unserer modernen Uni- 
versität in Manchester baut Deutschland in Frankfurt und in Hamburg 
Hochschulen einer neuen Art. Das englische Versicherungsgesetz ist ein 
Wiederhall der deutschen sozialen Gesetzgebung. Praktischer als alle Friedens- 
deputationen und Kongresse würde es sein, wenn Bremen und Hamburg 
nach den englischen Häfen einen ausgedehnteren Dienst einrichteten und so 
die Möglichkeiten eines größeren Menschenaustausches zwischen beiden 
Nationen verwirklichen würden. Die „Times“ meint: Das Gedeihen der 
freundschaftlichen Beziehungen, zu deren Förderung die gemeinsame di- 
plomatische Arbeit der deutschen und der englischen Regierung so sehr bei- 
getragen hat, sollte dazu führen, daß die beiden Länder ihre Flottenpolitik 
ohne Bitterkeit und ohne den Argwohn der letzten Jahre miteinander be- 
sprechen. „Daily Chronicle“ gibt seinem Leitartikel die bezeichnende Ueber- 
schrift „Einer englisch-deutschen Entente entgegen". Mit der „Vossischen 
Zeitung“, so sagt das Blatt, sind wir einig in der Annahme, daß die Er- 
klärungen des Marineministers einen glücklichen Anfang bedeuten auf dem 
Wege zu einem weitergreifenden Einverständnis und zu einer aufrichtigen 
Freundschaft. „Daily News and Leader“ weist auf das charakteristische 
Merkmal hin, das das Nachlassen der deutsch-englischen Spannung andeutet. 
Die „Jingopresse“ beider Länder hat den vergifteten Wortwechsel eingestellt. 
Gleichzeitig zeigen beide Regierungen den guten Willen zu einer Ver- 
ständigung. Hiermit sei die Schlacht schon halb gewonnen. Während der 
Balkankrise, so sagt das Blatt, waren unsere Interessen mit denen Deutsch- 
lands identisch, nicht mit denen Rußlands und seinem Schatten in der 
osteuropäischen Politik, nämlich Frankreich. Nun einmal der Wille und 
die Gelegenheit zum Zusammenarbeiten für Deutschland und England ge- 
geben ist, kann nichts außer einer ganz unglaublichen Dummheit die Re- 
gierungen beider Länder von einem engeren Einverständnis abhalten. Die 
„Westminster Gazette“ betont, daß die auswärtige Lage die Flottenfrage 
beherrschen müsse. Das Blatt hofft, daß gewisse deutliche und notwendige 
Tendenzen künftig auf beiden Seiten berücksichtigt werden. Es ist besser 
für uns, so hofft es weiter, daß Deutschland seine Interessen und seine 
Macht gleichmäßig über die Welt verteilt hat, wie wir selbst, als daß es 
in einem einzigen Meere mit seiner gesamten Flotte eingeschlossen ist mit 
der Front gegen die Macht, die ihr den Ausgang zu versperren scheint. 
Anderseits ist es besser für Deutschland, daß wir eine Seemacht mit kleiner 
Armee und soweit als möglich mit freien Händen in der europäischen 
Politik bleiben, als daß wir durch seine Seerüstungen veranlaßt würden, 
eine Kontinentalmacht mit einem starken Heere und festländischen Bünd- 
nissen zu werden. Diese Erwägungen müssen die Politik beider Länder 
bestimmen. Wenn man sie im Auge behält, dürfte es nicht schwer sein, 
an einer beständigen Politik festzuhalten, die beiden zusagt. 
8. Februar. (London.) Die Telegraphenleitungen zwischen 
Glasgow und London sind von Wahlweibern durchgeschnitten worden. 
10. Februar. (Unterhaus.) Debatte über die Flottenstärke 
und Luftschiffahrt.
	        
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