Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

500 Großbritannien. (März 12.) 
autonomes Albanien annehmen. Hinsichtlich der Westgrenze, die das adria- 
tische Küstengebiet bildet, besteht natürlich keine Schwierigkeit. Hinsichtlich 
der Nord-, Ost= und Südgrenze des neuen autonomen Albaniens zeigten 
die Besprechungen, daß nur noch über einen oder zwei Punkte, die nicht 
zu den vitalsten gehören, eine Verständigung erzielt werden muß, um 
eine vollständige Uebereinstimmung unter den Großmächten zu erreichen. 
Die Gruppierung der Mächte ist unverändert geblieben. Weder zu 
Frankreich noch zu Rußland sind unsere Beziehungen weniger herzlich oder 
weniger innig, als sie es vorher waren. Wir halten an diesen Freund- 
schaften fest und werden daran festhalten. Die Aenderung, die eingetreten 
ist, sofern überhaupt eine Aenderung eingetreten ist, ist die: Während jede 
Mächtegruppe, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, in bezug auf ihre eigenen 
Mitglieder ungeschmälert (unimpaired) geblieben ist, sind die Beziehungen 
zwischen den Mächtegruppen selbst zusehends herzlicher geworden. Die 
Mächte, und ich rechne auch unser Land dazu, deren Interessen durch die 
Veränderungen im nahen Osten weniger unmittelbar berührt werden, haben 
ernst zusammengearbeitet, um einen Weg der Verständigung für alle zu 
finden. Das ist ein hervorstechender und ein sehr angenehmer Zug der 
jüngsten Geschichte der Politik gewesen. In dieser Angelegenheit haben wir 
in einmütigem Wunsche mit Deutschland zusammengearbeitet. (Beifall.) 
Dieses Zusammenarbeiten hat nicht nur den Weg der Diplomaten an- 
genehmer gestaltet, sondern es hat — das ist unsere feste Ueberzeugung — 
auch gegenseitiges Vertrauen hervorgerufen, das zwischen den beiden großen 
Mächtegruppen andauern wird. (Beifall.) Nach Ansicht der britischen Re- 
gierung ist dies alles durch die Botschafterkonferenz in London sehr er- 
leichtert worden. Es wird mir vielleicht gestattet sein, der außerordentlichen, 
ich möchte fast sagen beispiellosen Geduld, Entschlossenheit, Bestimmtheit 
und Umsicht des Staatssekretärs Grey die Anerkennung zu zollen, die ge- 
wiß auch Bonar Law ihm nicht verweigern wird. Wir haben diese Bot- 
schafterkonferenzen in London als ein Zeichen des Vertrauens von seiten 
der anderen Regierungen aufgefaßt und haben uns bemüht, uns des in 
uns gesetzten verantwortungsvollen Vertrauens nach besten Kräften würdig 
zu zeigen. Dieses Vertrauen ist reich gerechtfertigt worden durch den loyalen 
versöhnlichen Geist, den diese hervorragenden Vertreter der Großmächte in 
allen Phasen der Verhandlungen bewiesen haben. 
Hugh Ceccil erklärte, es komme ihm so vor, als ob, wenn die um- 
laufenden Gerüchte wahr seien, die auswärtige Politik Englands, wenn 
nicht aggressiv, so doch abenteuerlich sei. Es sei ein allgemein geglaubtes 
Gerücht, daß England unter bestimmten Umständen und unter der Ver- 
pflichtung, wenn auch nicht vertraglicher Art, stehe, eine bedeutende be- 
waffnete Macht zur Vornahme von Operationen nach Europa zu entsenden. 
Asquith unterbrach hier den Redner und erklärte, er möchte sogleich jetzt 
bemerken, daß dies nicht wahr sei. 
12. März. (London.) Rede des deutschen Botschafters. 
Auf dem Diner des Vereins der Handelskammern sprach der deutsche 
Botschafter über die Beziehungen zwischen Handelsverkehr und Diplomatie. 
Fürst Lichnowsky sagte, daß die Diplomatie von Anfang an so eng mit 
dem Handelsverkehr verbunden sei, daß man sagen könne, beide seien zu- 
gleich entstanden. Denn wirtschaftliche Rücksichten und der Schutz der Handels- 
interessen hätten stets einen großen Einfluß auf die Gestaltung der aus- 
wärtigen Politik der Großmächte ausgeübt. Der Botschafter erinnerte an 
die alten Handelsbeziehungen zwischen England und Deutschland zur Zeit 
der Hanse. Allgemein habe man mit Ueberraschung und Genngtuung in
	        
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