Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

frankreich. (Oktober 17. 18.) 563 
Aeußeren Pichon eine längere Unterredung hatte, erklärte einem Bericht- 
erstatter u. a.: Rußland wünscht gleich allen Großmächten eine möglichst 
baldige Befestigung des Friedens im Orient. Ich glaube, daß kein einziger 
Balkanstaat verkennt, welches gemeinsame Interesse mit dieser Befestigung 
des Friedens verknüpft ist, was allerdings durch angenommene Gewohn- 
heiten und einander widerstreitende Interessen erschwert wird. Rußland 
hat den lebhaftesten Wunsch, dem osmanischen Reich eine normale und ge- 
deihliche Existenz auf der gegenwärtigen Grundlage zu erleichtern; dazu 
sind innere Reformen unabweislich. Als Nachbar der Türkei hat es nur 
den einen Wunsch, auf dem eigenen Gebiet nicht durch die Rückwirkung 
etwaiger Ruhestörungen in der Türkei beunruhigt zu werden. Unsere offen- 
sichtliche Selbstlosigkeit steht mit einer guten Verwaltung der türkischen 
Interessen der asiatischen Türkei im Einklang. Was die Balkanstaaten an- 
langt, so wird es zweckentsprechend sein, ihnen durch die den Großmächten 
zur Verfügung stehenden Mittel die notwendige Ruhe zu erleichtern und 
ihnen insbesondere finanzielle Krisen zu ersparen. Ich kann den zwischen 
den Großmächten aufrechterhaltenen Kontakt nur begrüßen, durch den 
mancherlei Verwicklungen hintangehalten wurden. Rußland hat in voller 
Uebereinstimmung mit seinen Verbündeten und Freunden seine Kraft in 
den Dienst des Friedens gestellt. Die europäische Diplomatie hat seit einem 
Jahre ein gemeinsames Ziel verfolgt und das Ergebnis ist geeignet, überall 
Voreingenommenheiten zu zerstreuen. 
17. Oktober. (Pau.) Der radikale Parteitag griff Poincaré 
persönlich an. Seine großen Reisen durch die Provinzen wären 
nach seiner Behauptung nur Vorbereitungen zur Begründung der 
persönlichen Gewalt. 
Es kam zu folgender einstimmig angenommenen Tagesordnung: 
„Der Kongreß empfiehlt der wachsamen Beachtung der Partei alle die 
Kundgebungen und Vorbereitungen einer persönlichen Politik, die das An- 
sehen der Parlamente zu vermindern und die Rückkehr aller Reaktionen 
gegen die weltlichen, demokratischen und gesellschaftlichen Eroberungen der 
republikanischen Partei zu begünstigen drohen.“ Schließlich stimmte der 
Kongreß den von seinem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten ein- 
gebrachten Resolutionen bei, in denen u. a. gegen die geplanten fremden 
Anleihen und gegen die geheimen Verträge protestiert wird und jenen 
Parlamentariern, die sich zur französisch-deutschen Verständigungskonferenz 
nach Bern begeben haben, die Zustimmung und die Glückwünsche der Partei 
ausgesprochen werden. 
18. Oktober. Die Teilnahme an dem Unglück des „L. I“ 
und an den drei anderen tödlichen Fliegerunfällen, die in Deutsch- 
land zu beklagen waren, ist allgemein, und sämtliche Zeitungen 
geben ihr Ausdruck. 
Außer der unmittelbaren Beileidsdrahtung des Präsidenten Poin- 
caré an Kaiser Wilhelm sind auch andere amtliche Kundgebungen der Sym- 
pathie zu verzeichnen. Der Marineminister Baudin beauftragte den fran- 
zösischen Marineattaché in Berlin, dem deutschen Marineministerium das 
Beileid der französischen Kriegsflotte und ihres Oberhauptes persönlich aus- 
zudrücken, und der Aeroklub von Frankreich übermittelte dem Deutschen 
Luftschifferbund eine ähnliche Kundgebung. 
367
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.