Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Juhbems: Algeneines. (Oltober 5.) 755 
Constant-Paris, mit lebhaftem Beifall empfangen, führte aus, er erachte es 
als eine der höchsten Aufgaben des Verbandes für internationale Verstän- 
digung, die schwere Kriegsgefahr in Europa zu beseitigen. Er bezeichnet 
sich, wenn er heute Brudergrüße aus Frankreich überbringe, nicht als einen 
Schwärmer und Enthusiasten, sondern als einen ernsten und wahren Pa- 
trioten. Es freue ihn, daß er hier Vertreter aller Berufsstände Deutsch- 
lands finde, welche nicht nur für ihre Städte und für das Vaterland, son- 
dern auch für sich selbst arbeiten, wenn sie den Krieg zu beseitigen ver- 
suchen, der schlimmer sei als die Sklaverei und der für ganz Europa eine 
Katastrophe bedeuten würde. Professor Dr. Nippold--Oberursel führte aus, 
daß der Verband sich niemals mit Utopien und Friedensphantastereien be- 
schäftigt habe, auch nicht irgendeinen Idealismus predige, sondern die reine 
Vernunft, nicht das Gefühl, sondern nüchterne Verstandespolitik. In dieser 
Hinsicht sei er mit der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes einig. 
Der Verband bekämpfe auch nicht die anderen Friedensgesellschaften, er 
wende sich nur gegen den Nationalismus, der in den Chauvinismus aus- 
arte. Der Verband hat, um ein Bild zu gebrauchen, weder mit dem politi- 
schen Alkoholismus der Alldeutschen, noch mit der Abstinenz der Pazifisten 
etwas gemein, sondern er bewegt sich auf der mittleren Linie der Tem- 
perenzler. Er will zwischen den Völkern eine Verständigung herbeiführen, 
nicht aber den Frieden um jeden Preis. Die Völker sollen gegenseitig vor- 
einander Achtung bekommen, sich aber niemals nachlaufen. Deswegen könne 
der Verband auch niemals Stellung für die Abschaffung der Kriege über- 
haupt nehmen. Er verurteile nur das leichtfertige Hetzen zum Kriege. 
Ueber Weltpolitik und Weltwirtschaft sprach Reichstagsabg. Bergrat a. D. 
Gothein-Breslau. Er wies nach, daß Deutschland unbedingt auf die Ein- 
fuhr aus anderen Staaten angewiesen ist, da es nicht einmal imstande sei, 
die nötigen Futterstoffe und Düngemittel selbst zu erzeugen. Ebenso ist die 
deutsche Industrie auf die Erzzufuhr aus dem Ausland angewiesen, in noch 
höherem Maße die Textilindustrie auf die Einfuhr ihrer Rohstoffe, und aus 
diesen Gründen wäre unser Kulturstandard rettungslos verloren, würden 
wir uns von der Einfuhrpolitik abwenden. Heute sei das Streben nach 
Gebietserweiterung lediglich dahin aufzufassen, daß es neue Absatzgebiete 
für den Kaufmann schaffen wolle. Eigenartig sei, daß die Kolonialpolitik 
in größerem Umfang mit den Schutzzöllen wieder eingesetzt habe. Die 
Kolonialpolitik sei die eigentliche Weltpolitik der einzelnen Länder, welche 
in kaufmännischer Hinsicht nicht ferner von einem einzelnen Gebiet ab- 
hängig sein wollen. Daher sei die Kolonialpolitik eine sehr erwünschte Kultur- 
aufgabe, denn sie habe neue Absatzgebiete für Handel und Industrie zu 
schaffen. Eine Ausbeutungspolitik gegen die Schutzgebiete aber würde für 
das Mutterland sehr gefährlich werden. Eine Kolonialpolitik, welche offene 
Türen nicht zulasse, müsse zu Mißstimmungen führen, wie die Marokko- 
affäre mit ihrer Kriegsgefahr zwischen Frankreich und Deutschland gezeigt 
habe. Was man unter Weltpolitik verstehe, darüber gehen die Meinungen 
zwar auseinander, niemals aber dürfe man auf dem Standpunkt stehen, 
daß Weltpolitik nur ein Auftreten in Bismarckschen Kürassierstiefeln be- 
deuten dürfe. Mit einem derartigen Chauvinismus könne man nicht zu- 
sammengehen. Die Kolonialpolitik müsse davor bewahrt werden, zur 
Prestigepolitik zu werden, die auf das schärfste zu verurteilen ist, da sie 
nicht nur äußerst kostspielig, sondern auch gefährlich ist; es ist die Politik 
des reichen Protzen, überall dabei sein zu müssen. Er führt eine ganze 
Reihe von Aufgaben des Verbandes für internationale Verständigung auf, 
wie Ausbau des internationalen See= und Kriegsrechts, Einführung eines 
einheitlichen internationalen Wechsel- und Scheckrechts, Regelung des inter- 
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