Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

760 Auhaus: Ilgemeines. (November 30.) 
hatte den Zweck, die Halbinsel vor fremder Eroberung zu schützen, wir 
dachten aber keineswegs an ein Bündnis mit aggressiven Absichten. Außer- 
dem laßt Ihr Bulgaren die eventuelle Haltung Rumäniens ganz außer 
acht. Rumänien wird wenigstens seine Truppen an der Grenze konzentrieren. 
Unser Einschreiten dagegen könnte aber Anlaß zu dem Weltkriege geben. 
Für einen solchen können wir aber die Verantwortung nicht übernehmen. 
Rußland wird nur in dem Falle Krieg führen, wenn seine eigenen Grenzen 
angegriffen werden oder wenn ein Staat versuchen sollte, sich an den 
Dardanellen festzusetzen!“ Suchte nun auch Rußland aufrichtig Bulgarien 
vom Kriege zurückzuhalten, so hat es ihm nach Ausbruch desselben werk- 
tätigste Hilfe geleistet, zunächst mit einem Vorschuß von 27 Millionen Francs, 
dessen Rückzahlung immer wieder aufsgeschoben wird. Sodann hat Rußland 
aus seinen Beständen, ohne daß bisher eine Bezahlung erfolgt wäre, an 
Bulgarien geliefert: 190000 Militärmäntel, 80000 Schaftstiesel, 50 000 
Berdan-Gewehre mit 50 Millionen Patronen, 1 Million Büchsen mit Kon- 
serven, 5000 Tonnen Kohle. Außerdem bezahlte Zar Nikolaus 3 Millionen 
Francs für 25000 Gewehre und 12 Millionen Patronen, die dann auf 
Verwendung der „Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft" vom russischen 
Kriegsministerium für die Bewaffnung der mazedonischen Freiwilligen- 
Brigade abgeschickt worden sind. 
30. November. Aus Freycinets „Erinnerungen“ über die Ent- 
stehung des russisch-französischen Bündnisses vom November 1888. 
bis 1891. 
Als er im Ministerium Floquet Kriegsminister und Goblet Minister 
des Auswärtigen war, weilte Großfürst Wladimir von Rußland in Paris 
und gab den Wunsch zu erkennen, ihn zu sprechen. „Ich begab mich.“ 
berichtet Freycinet, „ins Louvre-Hotel, wo er abgestiegen war, und dort 
sagte mir der Großfürst ohne Umschweife, er wisse von dem Eifer, mit dem 
wir unser neues Gewehr herstellten, und er würde sich freuen, dieses Ge- 
wehr selbst einmal in der Hand zu haben; man erzähle ihm Wunderdinge 
von der Waffe. Er verstehe sich ein wenig darauf, fügte er hinzu, und es 
wäre ihm angenehm, ein Exemplar mit einigen Patronen zu besitzen; es 
würde ihm Vergnügen machen, es auszuprobieren. Der Minister könne ver- 
sichert sein, daß er es nicht aus den Händen lassen werde.“ Herr de Freucinet 
gesteht, daß dieser ungewöhnliche Wunsch ihn nicht wenig „überraschte“, 
denn der Gedanke, eine neue Waffe, deren Konstruktion der Staat aufs 
strengste geheim zu halten sich bemühte, dem Angehörigen eines fremden 
Landes auszuhändigen, war jedenfalls nicht alltäglich, Freycinet bat den 
Großfürsten um die Erlaubnis, seinen Wunsch zunächst dem Ministerrate 
vorzutragen, denn da das Kriegsmaterial Staatseigentum sei, könne auch 
nicht der geringste Teil davon ohne die Erfüllung gewisser Formalitäten 
abgegeben werden. Als die Angelegenheit alsbald im Ministerrate zur 
Sprache kam, dachte noch niemand an die politischen Konsequenzen, die 
erst die Zukunft reifen ließ; zwischen den Zeilen von Freycinets Aufzeich- 
nungen liest man das Unbehagen, das der Wunsch des Großfürsten bei 
den leitenden Staatsmännern erweckte, aber auf der andern Seite scheute 
man davor zurück, „Seiner Hoheit“ eine Absage zu geben. „Wir wurden 
bald einig, daß wir uns, falls der Großfürst bei seinem Verlangen blieb, 
seinem Wunsche nicht würden entziehen können; so beschloß man denn, 
den Großfürsten wenigstens zunächst darauf hinzuweisen, daß nicht nur 
der Mechanismus der Waffe strengstens geheim gehalten werden müsse, 
sondern auch die Tatsache, daß man ihm, dem Groffürsten, ein Exemplar 
überlassen habe, da das Bekanntwerden dieser Nachricht die mannigfaltigsten
	        
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