Meersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1913. 769
eine mehr landeinwärts gelegene Grenze von Midia am Schwarzen
Meer nach Enos am Mittelländischen Meer vorgeschlagen wurde,
durch die jeder festländische Zugang zu den Dardanellen der
Türkei verbleiben, das Wilajet Adrianopel aber an Bulgarien
fallen sollte. Die in London tagende Friedenskonferenz sträubte
sich zwar noch, auf diese Bedingungen einzugehen. Aber eine Be-
sprechung, die Sir Edward Grey im Auswärtigen Amte mit ihnen
hatte, endete mit der Erklärung, daß diejenigen Vertreter, die den
Entwurf der Großmächte annehmen wollten, zur Unterzeichnung
zugelassen würden, während es den übrigen nahegelegt wurde, London
zu verlassen (27. Mai). Dieser Versuch, den Balkanbund zu sprengen,
hatte den gewünschten Erfolg. Am 30. Mai wurde der Präliminar=
frieden in London unterzeichnet. Außer der Abtrennung Albaniens
und der Festlegung der bulgarisch-türkischen Grenze nach den letzten
Vorschlägen der Botschafterreunion bestimmte dieser Friedensver-
trag, daß die Türkei ihre Rechte an der Insel Kreta den verbün-
deten Balkanstaaten abtritt und daß das staatsrechtliche Verhältnis
aller anderen Inseln im Aegäischen Meere sowie der Halbinsel Athos
durch die Großmächte geregelt wird, während alle finanziellen Fragen,
die aus dem Krieg und den Gebietsabtretungen hervorgehen, einer
besonderen Kommission überlassen blieben, auf der die Großmächte
und die Kriegführenden vertreten sein sollten. Als Sitz dieser Kom-
mission wurde Paris bestimmt. Unter der Erklärung, daß die Ver-
teilung des zur Verfügung stehenden Gebiets und die weiteren zur
Vervollständigung des Friedenswerks notwendigen Abschlüsse den
einzelnen Regierungen des Balkanbundes und der Türkei überlassen
bleiben müssen, schloß die Friedenskonferenz am 9. Juni ihre Sitz-
ungen in London (S. 509). Es war eine deutliche Absage an die
Botschafterreunion, aber keine definitive Lösung der schwebenden
Streitigkeiten. Vergeblich gaben die Mächte den kriegführenden
Parteien den wohlgemeinten Rat, daß eine teilweise Demobilisierung
empfehlenswert wäre, um die friedliche Lösung der Balkanfragen
zu erleichtern.
Die Auseinandersetzung zwischen den verbündeten Balkan-
staaten nahm, nachdem die Botschafterreunion fie abgelehnt hatte
und die Londoner Friedenskonferenz auseinander gegangen war, die
Europäischer Geschichtskalender. LIV. 49