Des Deensche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 11.) 65
daß die echte Kunst, die Wissenschaft, dadurch mit prostituiert wird. Ich
glaube, die Männer der Wissenschaft, die Männer der Kunst sollten mit
uns Hand in Hand gehen, um diese Afterwissenschaft, diese Scheinkunst,
diese Schmutzkunst zu verleugnen und als das zu bezeichnen, was sie ist:
eine Vernichtung der Volksseele, eine Vergiftung des Volksgemüts. Des-
wegen begrüßen wir die in Aussicht gestellte Vorlage mit großer Freude.
Die edle Kunst hat nichts zu fürchten. Im Interesse der edlen Kunst liegt
es, daß die Grenze scharf gezogen wird, jenseits deren die Kunst nicht mehr
den strahlenden Glanz trägt, der sie allein groß, gewaltig, ideal macht.
Abg. Dr. Müller-Meiningen (Fortschr. Vp.): Was ist es denn, was
die Einigung zwischen uns auf diesem Gebiete so sehr erschwert? Das sind
vor allem die bekannten Verwaltungsexzesse der preußischen Polizei. Wir
denken dabei an das Verbot der „Weber“, an das Verbot eines so ernsten,
großen Werkes wie „Maria von Magdala“ von Paul Heyse usw. Der-
artige Streiche konnten gemacht werden. Gerade durch unsere ununter-
brochen fortgesetzte Kritik ist es unzweifelhaft mit der Zensur und den
lächerlichen, kleinlichen Nadelstichen weit besser geworden als vor 12 Jahren;
solche Dummheiten z. B. wie damals mit dem Verbot von „Maria von
Magdala“ sind schon lange nicht wieder gemacht worden. Herr Kollege
Dr. Oertel macht mich auf eine Entschließung des Bundesrats aufmerksam,
wonach sich ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Schundliteratur in Vor-
bereitung befindet. Ja, wir werden ja sehen, welche Legaldefinition für die
Schundliteratur gefunden werden kann. Ich bezweifle es sehr, daß eine
derartige Definition möglich ist. Wir werden sehr gern die Schundliteratur
bekämpfen, wo wir können. Aber wir wollen vor allem das Herüber-
spielen auf das strittige Kunstgebiet, von dem ich vorher sprach, ablehnen.
Das Urhebergesetz schützt ideell das Werk nach seiner Freigabe zu wenig,
es schützt die Persönlichkeit des Urhebers zu wenig. Aber nach einer anderen
Richtung! — Ich hoffe, daß Sie mir da auch zustimmen werden —:
Ich meine nämlich die Verstümmelung der Klassiker, der alten wie der
neuen, wie sie jetzt bei uns Mode geworden ist; sie ist geradezu eine per-
verse Roheit geworden. Diese sinnlose Schändung unserer Autoren — ich
denke z. B. an eine solche Schändung wie an den Werken von Liliencron
usw. — muß endlich einmal abgestellt werden. Am notwendigsten wäre
die Gründung eines Schutzverbandes gegen die Verhunzung unserer deutschen
Klassiker, vor allen Dingen die elenden Verhunzungen aus sogenannter
Sittlichkeit, aus Gründen der Prüderie. Ich möchte nun einige Bemerkungen
über die allgemeine kriminalpolitische Situation machen, und zwar im
Anschluß an ein außerordentlich verdienstvolles Werk, das leider in der Oeffent-
lichkeit viel zu wenig berücksichtigt worden ist: es ist das Werk des Moabiter
Anstaltsdirektors Dr. Finkelenburg. Herr Dr. Finkelenburg hat darauf ver-
wiesen, daß in Deutschland jede 12. Person, und zwar jeder 6. Mann und
jedes 25. Weib, wegen Verbrechens und Vergehens gegen die Reichsgesetze be-
straft worden ist. Er spricht von einem „nie geschauten Panorama“, auf das
man hier aus dieser Statistik schaut, und er wirft zu gleicher Zeit die Frage
auf, wie die furchtbare Zahl zu reduzieren sei; er spricht dabei von der Straf-
sucht unserer deutschen Gerichte. Ich glaube, daß nicht alles Strafsucht der
Richter ist, sondern daß auch vieles ein unwillkommener Strafzwang für
den deutschen Richter ist. Unzweifelhaft werden viele Sünden der Gesetz-
gebung unseren Richtern zur Last gelegt. Hier war es gerade. wo die letzte
Novelle zum Strafgesetzbuch eingriff, die eine wertvolle Gewissensentlastung
der Richter mit sich brachte. Der Richterstand muß in Deutschland sehr
oft für die Dieharmonie unserer Polizeistrafgesetzgebung büßen; ihm wird
das zur Last gelegt, was eigentlich die Gesetzgebung verschuldet hat.
Europäischer Geschichtskalender. I.IV. 5