Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

D Besche Reit und seine rinfeluen Glieder. (Februar 16.—19.) 83 
geregelt werden, besonders die Plakatbestimmungen. Leute, die Sonntags 
Flugblätter verteilten, wurden „wegen Sonntagsarbeit“ bestraft. Ein Gast- 
wirt, der ein Plakat aushängt mit der Ankündigung, ein Likör kostet so 
und so viel, macht sich strafbar. Das Aushängen einer Preisliste durch 
den Kaufmann ist strasbar. Die Polizei schreitet nur nicht ein, um sich 
nicht dem Fluche der Lächerlichkeit auszusetzen. In Berlin wurden die 
Konditoren nach dem Preßgesetz bestraft, weil sie auf den Pfefferkuchen 
kleine Verschen angebracht hatten. (Heiterkeit und Hört, hört!) Jedes Plakat 
der Mädchenrettungsheime auf den Bahnhöfen verstößt gegen das preußische 
Preßgesetz. Kein Zwang ist schimpflicher und brutaler als der in Glaubens- 
sachen, daher muß die religiöse Eidesformel denjenigen erlassen werden, die 
die Anrufung Gottes mit ihrem Gewissen nicht vereinigen können. Für 
die Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild sind auch wir. Aber 
es besteht die Gefahr, daß man auch gegen Kunstwerke vorgeht. Es ist 
ungeheuerlich, wenn das Landgericht einfach erklärt: „Die Darstellung des 
Nackten ist unzüchtig.“ Glücklicherweise ist das Reichsgericht anderer An- 
sicht. Wir billigen den Kampf gegen den Schund, aber wir billigen nicht 
den Kampf gegen die freie Kunst.“ Holtschke (K.): „Gute Beziehungen 
zwischen Rechtsanwälten und Richtern sind durchaus wünschenswert. Eine 
Novelle zum geschäftlichen Schutz gegen unerkannte Geisteskranke ist nicht 
so dringend notwendig. Für den sechsten Reichsanwalt sind auch wir. Die 
verhältnismäßig geringen Kosten fallen bei einer so hohen Behörde nicht 
ins Gewicht. Die Resolution Schiffer würde das Reichsgericht vor schwere, 
jast unmögliche Aufgaben stellen. Wir werden deshalb dagegen stimmen. 
Der Vorwurf der Klassenjustiz ist ja gegen früher erheblich eingeschränkt 
worden. Man spricht dem Richter nur auch wegen seines Bildungsganges 
oder seiner Erziehung die Fähigkeit ab, das Volk zu verstehen. Auch in 
dieser Abschwächung ist der Vorwurf unberechtigt. Unsere Richter stehen 
mitten im Leben und lassen sich auch nicht unbewußt durch äußere Momente 
in der Beurteilung von Rechtsfragen beurteilen. Ihre Wahl durch das Volk 
wäre kein Heilmittel. Dann würde es erst Klassenjustiz geben. Der Richter 
soll unabhängig sein. Dafür sind wir stets eingetreten und werden es auch 
weiter tun.“ Mertin (Rp.): „Wir sind keine Feinde einer Novellengesetz- 
gebung. Bedenken gegen das Schöffenamt der Lehrer haben wir nicht; 
aber sie als die notwendige logische Konsequenz der Rechtsentwicklung 
namentlich der Jugendgerichte anzusehen, geht uns doch zu weit. Die 
Durchführung der Resolution Schiffer dürfte nicht ganz einfach sein. Hin- 
sichtlich der Mißstände, die sich im Grundstückverkehr gezeigt haben, be- 
antragen wir eine Resolution. Danach soll das Zwangsversteigerungsgesetz 
derart geändert werden, daß die Verfügung über den Miet= und Pachtzins 
gegenüber dem Hypothekengläubiger nur wirksam ist, soweit sie sich auf den 
Miet= oder Pachtzins für das zurzeit der Beschlagnahme laufende Kalender- 
sahr bezieht. Mit der recht gut gemeinten Einrichtung der Gesellschaften 
mit beschränkter Haftung hat man durch allerhand Schiebungen und Machen- 
schaften Schindluder getrieben. Trotzdem ich Anwalt bin, bin ich gegen 
eine Erhöhung der Gebühren. Das Uebel rührt von der Ueberfüllung des 
Standes her. Der Schutz der persönlichen Ehre durch die Gerichte versagt 
doch sehr häufig. Das Berliner Tageblatt hatte meinen Freund v. Liebert 
in der prononziertesten Weise unter Hinweisen auf seine Eigenschaften als 
General, ehemaligen Gouverneur und als Reichstagsabgeordneten an- 
gegriffen. Er wurde aber auf die Privatklage verwiesen.“ Werner-Hers- 
feld (Rip.): „Manche Richtersprüche, die vom Volke nicht verstanden werden, 
legen doch eine Beschleunigung der Strafprozeßreform nahe. Das Winkel- 
konsulententum ist eine ernste Gefahr für das Volk. Die Bezahlung der 
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