Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

84 Das Denutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 16.—19.) 
Rechtsanwaltsgehilfen ist namentlich in Berlin sehr niedrig. Dem Wunsch 
nach Regelung des Irrenwesens kann ich mich nur anschließen.“ Nachdem 
der Abg. Landsberg (Sd.) eine ganze Reihe von Einzelfällen zur Kritik 
unserer Rechtsprechung besprochen hat, erklärt Dr. Bell (Z.): „Der Bor- 
wurf der Klassenjustiz muß auf die Dauer eine maßlose Verbitterung bei 
unserm Richterstand hervorrufen. Außerdem wird er in der sozialdemo- 
kratischen Oeffentlichkeit, in Presse und Volksversammlungen in aller Schärfe 
und ohne jede Abschwächung erhoben. Von da bis zum Klassenhaß ist für 
die Massen nur ein Schritt. Wir brauchen ein Fortschreiten der sozialen 
Rechtsprechung. Das System unserer Rechtsordnung sollten wir doch nicht 
durch allzu viele Novellen durchbrechen. Das Herausnehmen der Rosinen 
kann sehr leicht den ganzen Kuchen unschmackhaft machen. Die Anträge 
Schiffer, die auf Beschleunigung und Vereinheitlichung des Rechtsverfahrens 
gehen, halten wir für praktisch unausführbar. Gegen böswillige Schuldner 
und systematische Schieber verlangen wir die strengsten Maßnahmen. In 
Beleidigungssachen steht man der Gesetzgebung vielfach ratlos gegenüber. 
Der Rechtsanwaltsstand bleibt das Stiefkind der Justiz. Hier wie auch 
sonst muß die Justiz modern werden, sogar in der Sprache. Zu einem 
schlimmen Mißstand haben sich die Detektivinstitute entwickelt. Die Ge- 
richtsberichterstattung, hauptsächlich vieler sogenannten unparteiischen Blätter, 
hat sich zu einem Skandal entwickelt. Die Bewegung gegen den Schmutz 
in Wort und Bild ist nicht aufzuhalten. Wir kämpfen gegen Schein= und 
Afterkunst für die wahre edle Kunst. Künstler und Literaten haben sich 
der Pornographie dienstbar gemacht. Damit haben sie ihre Kunst zur Buhl- 
dirne erniedrigt.“" 
Am 18. Februar spricht zuerst Abg. List-Eßlingen (Nl.) über die 
Frage, ob sich eine vorläufige Novellengesetzgebung empfiehlt, solange das 
neue Strafgesetzbuch nicht erlassen ist. Der Redner verbreitet sich weiter 
über die von den Vorrednern bereits berührten Gegenstände und Fragen. 
Abg. Dr. Oertel (Dk.) stimmt der Meinung zu, daß die Nichtbeeidigung 
Rötgers als unnötig und unzweckmäßig für jeden Unbefangenen erwiesen 
worden ist; „.und weil die Sache nicht wieder gutgemacht werden kann, halte 
auch ich es für meine Pflicht, im Namen meiner politischen Freunde her- 
vorzuheben, daß wir lebhaft bedauern, daß auf das Bild dieses Mannes 
ein solcher Makel gefallen ist. Eine bisher noch nicht gestreiste Frage ist 
es, ob die Novelle zum Majestätsbeleidigungsgesetz wirklich zweckmäßig ge- 
wesen ist. Wir haben seinerzeit zugestimmt, glaube ich; ich war damals 
nicht im Reichstage. Ich persönlich hatte große Bedenken und ich kann 
nicht leugnen, sie sind bestätigt worden. Wir sind durchaus für einen 
besseren Schutz der bürgerlichen und der persönlichen Ehre. Ich selbst bin 
kein Freund der Beleidigungsklagen. Die Ehre muß aber auch besser gegen 
Verfehlungen in der Presse geschützt werden. Diese ist nicht allenthalben 
so gewissenhaft, daß sie auf die persönliche Ehre die nötige Rücksicht nimmt. 
(Zurufe bei den Sd.) Ich habe keine Seite des Hauses angesehen. Ich 
bitte aber den Staatssekretär, daß er sich den entsprechenden Gesetzentwurf 
ansieht, der in Ungarn jetzt vorliegt und als Preßgesetz recht beachtenswerte 
Winke enthält. Es ist auch über einen besseren Schutz der Pelamttenê gegen 
gemeingefährliche Irre gesprochen worden. Wer in der Presse steht, der 
erfährt beinahe tagtäglich, daß Halbirre, die nicht im vollen Besitz ihrer 
geistigen Fähigkeiten sind, freigesprochen werden. Wird auf diesem Gebiete 
weiter gegangen, dann wird das Wort eines Witzblattes Wahrheit: „Uns 
kann ja nichts passieren, weil wir pathologisch sind.“ Einen solchen kleinen 
Zug hat ja beinahe jeder. Wenn ich Spezialist wäre, dann würde ich viel- 
leicht auch bei vielen Mitgliedern dieses hohen Hauses einen pathologischen 
 
	        
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