86 Das Dentsthe Reith und seine einzelnen Glieder. (Februar 16. — 19.)
Es gilt das christliche Wort: Alles ist Euer, aber auch das: Ihr aber seid
des Herrn. Diese Frage kann nur gelöst werden auf dem Nährboden des
lebendigen Christentums. Es ist gestern das Wort gefallen: justitia funda-
mentum regnorum. Ich möchte einen Schritt weitergehen und sagen:
fundamentum justitiae timor dei!“
Abg. Dr. Müller-Meiningen (Fortschr. Vp.): Redner beschwert sich
über die Handhabung des Reichsvereinsgesetzes in Preußen unter Be-
zugnahme auf einen besonderen Fall und bemerkt im Anschluß daran:
„Zur Rettung des Staatsanwaltschaftsstandes erhebe ich wiederholt die
Forderung, daß die Staatsanwälte selbständiger und unabhängiger nach
oben gemacht werden müssen, sonst glaubt kein Mensch an ihre Objektivität.
Damit komme ich auf die Reform der Strafprozeßordnung und des Gerichts-
verfassungsgesetzes. In der „Deutschen Juristenzeitung“ hat der Schriftleiter
eine Reihe von Aeußerungen von Reichstagsmitgliedern über diese Reform-
fragen publiziert. Mit den Grundgedanken, die ich da entwickelt habe, haben
sich die Abg. Wellstein, Schiffer und Haase einverstanden erklärt. Einigkeit
besteht über die Reform im Wege der Not- und Spezialgesetzgebung. Wir
können nicht 10 bis 15 Jahre auf die allernotwendigsten Reformen warten;
entscheidend ist allein das Bedürfnis des deutschen Volkes, des rechtsuchenden
Publikums. Die Reform der Eidesabnahme, die Zuziehung der Lehrer zum
Schöffen- und Geschworenenamt, die Beseitigung des Zeugniszwanges für
die Presse, diese Fragen sind völlig spruchreif. Keine Einigung scheint sich
erzielen zu lassen über die Berufung in Strafsachen.“ Redner spricht so-
dann über Jugendgesetzgebung und über den Kampf gegen den Schmutz
in Wort und Bild, erklärt sich aber nicht einverstanden mit dem Kampf
gegen Postkarten, die Kunstwerke darstellen. Der Zweck der Künstlerpost-
karten sei heute in den meisten Fällen der gleiche wie der der viel teureren
photographischen Reproduktion; diese kann die große Masse des Volkes nicht
kaufen. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Frage ist in Deutschland sehr
groß; es handelt sich um eine der größten und geachtetsten Industrien.
Ich habe die 43 Postkarten, welche die Berliner Strafkammer beschlag-
nahmen ließ und die das Reichsgericht freigegeben hat, auf den Tisch des
Hauses niedergelegt. Es handelt sich hier nicht um die öffentliche Aus-
legung der Postkarten in großen Massen und Reihen, wie es der preußische
Justizminister darstellte, sondern sie sind alle aus den Mappen der Gros-
sisten durch die Schutzleute herausgenommen worden. Gewiß kann die Art
der Aufmachung eine Schmutzerei sein; aber das kommt hier nicht in Betracht.
Bei einem Verleger erschienen mehrfach sechs bis acht Beamte, nahmen Tau-
sende von Postkarten mit und stellten sie ihm erst nach langen Monaten
wieder zu, obwohl nur eine einzige Postkarte einmal inkriminiert worden
war, und nachher erfolgte durchweg Freisprechung; ein Beweis, wie plan-
und ziellos Schutzleute und Staatsanwälte vorgehen.“ Redner führt noch
zahlreiche Beispiele von Mißgriffen der Polizei an. „Sogar an einem
anatomischen Wandbild, das den Aufbau des menschlichen Körpers zeigt,
hat man Anstoß genommen, ebenso wie man eine Lehrerin, die einen ent-
blößten Hals hatte, als unsittliches Weibsbild bezeichnete. Das Allertollste
ist aber die Verballhornisierung unserer deutschen Dichter. Hier wäre ein
Gesetz zum Schutze der deutschen Klassiker notwendig. Ueberall wird Rei-
nigungssucht in den Schulbüchern betrieben. Goldene Worte sind in dem
Münchener Sittlichkeitsverein gesprochen worden, wo als bestes Kampfmittel
die richtige sittliche Erziehung in der gesunden Gewöhnung an das Nackte
gefordert wird. Weiter wird gefordert, die Kinder so zu erziehen, daß sie
auch das Nackte in der Kunst rein sehen können. Mit dem Begriff zur
Erziehung zur religiösen deutschen Auffassung läßt sich nichts anfangen.