Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

Las Dentsqhe Reith und seine einzelnen Glieder. (Februar 16. -198.) 87 
Wan soll bedenken, daß das Ebenbild Gottes doch nackt auf die Welt ge- 
kommen ist. Gute Literatur nützt hier tausendmal mehr als die deutschen 
Sttlichkeitsschnüffeleien. Der Staat hat bisher hier nur wenig Positives 
getan. Pestalozzi hat darauf hingewiesen, daß es eine Schande sei, wenn 
man das Unkraut so lange wachsen läßt, bis es überwuchert. Wenn hier 
abwegige Urteile gefällt werden, so kommt es von der Weltfremdheit der 
betreffenden Richter. Aber es rührt sich in deutschen Richterkreisen, damit 
der Richterstand wieder die alte Stellung im Volke einnimmt.“ 
Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Lisko: „Der Vorredner hat 
sich mit verschiedenen Gerichtsentscheidungen beschäftigt, bei denen in der 
letzten Zeit Postkarten mit Nachbildungen von Kunstwerken für unzüchti 
erklärt worden sind. Ich stimme allen denen zu, die ausgeführt haben, daß 
der Schmutz in Wort und Bild energisch bekämpft werden muß. Die 
Schwierigkeiten beginnen erst da, wo es sich um die Verbreitung von Nach- 
bildungen von Kunstwerken handelt. Es ist hier eine Reihe von Einzelfällen 
angeführt worden, zu denen ich hier nicht direkt Stellung nehmen will. 
Benn Postkarten mit Abbildungen anerkannter Meister, deren Originale in 
Museen hängen, für unzüchtig erklärt worden sind, so gebe ich zu, daß eine 
solche Entscheidung zunächst überrascht. Sieht man aber dann bei näherem 
Eingehen, daß die Postkarte von den betreffenden Händlern in einer Um- 
gebung, die die Lüsternheit wachrufen muß, feilgeboten wurde, dann ge- 
winnt die Sache ein durchaus anderes Bild. Im übrigen will ich nicht 
bestreiten, daß man über die Berechtigung dieser Urteile verschiedener 
Meinung sein kann. Jeder, der mit diesen Fragen sich näher beschäftigt 
hat, weiß, wie schwierig die Abgrenzung des Begriffs des Unzüchtigen ist 
und daß dabei in Ermangelung eines allgemein gültigen, greifbaren Maß- 
stabes die Ansichten auseinandergehen. Aus solchen einzelnen Entscheidungen 
wird man weitergehende Schlüsse nicht ziehen dürfen. Das Reichsgericht 
hat ständig die Auffassung vertreten, daß die bildliche Darstellung des 
Nackten an sich ebensowenig unzüchtig ist wie der unverhüllte menschliche 
Körper selbst, und ebensowenig hat es sich der Erkenntnis verschlossen, daß 
durch die vorherrschend künstlerische Auffassung auch bei Darstellung der 
sinnlichen Schönheit die sinnliche Empfindung zurückgedrängt und damit die 
Berletzung des Scham= und Sittlichkeitsgefühls ausgeschlossen ist. Dadurch 
wird die Bewegungsfreiheit der Kunst gewährleistet, deren sie bedarf. Auf 
der anderen Seite hat das Reichsgericht in ebenso ständiger Rechtsprechung 
angenommen, daß die Reproduktion von Kunstwerken, insbesondere in Post- 
karten, so erfolgen kann, daß sie zu unzüchtigen Abbildungen werden. Der 
Abg. Oertel hat bereits darauf hingewiesen, daß durch die Verzerrung des 
ursprünglich künstlerischen Charakters das Unzüchtige in den Vordergrund 
gedrängt wird. Dieser Effekt wird auch durch eine Zusammenstellung mit 
unzüchtigen Darstellungen hervorgerufen. Das Reichsgericht hat sich vor 
einigen Lagen erneut mit dieser Frage beschäftigt, aus Anlaß des bekannten 
Landgerichtsurteils, das Reproduktionen lediglich deshalb für unzüchtig er- 
klärt hatte, weil die Abbildungen von menschlichen und weiblichen Körpern 
dargestellt und als Massenmaterial zur Verbreitung für das große Publi- 
kum bestimmt waren. Das Reichsgericht ist dieser Auffassung entgegenge- 
treten und hat seine Auffassung in Grundsätzen niedergelegt. Ich habe eine 
Abschrift des Urteils heute erhalten. Das Reichsgericht führt aus, daß 
eine Schrift oder Abbildung nur insofern unzüchtig ist, als sie das im 
Bolke herrschende allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl zu verletzen 
geeignet ist. Die Darstellung des menschlichen Körpers aber ist in der Regel 
nicht geeignet, eine solche Schamverletzung hervorzurufen, es müßten denn 
besondere das Geschlechtsleben berührende Umstände mitsprechen. Es kann
	        
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