Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

186 Ds Betsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 27.) 
mand daraus irgendwelche Münze schlagen können. Denn der Privatbrief 
ist nicht allein gesetzlich geschützt, sondern auch für jeden ehrenhaft Denkenden 
ein umfriedetes Gehege; er enthält häufig Augenblicksstimmungen und Tem- 
peramentsäußerungen, die auf die Entfernung das mündliche Wort ersetzen 
müssen und darum ebenso flüchtig zu werten sind. Aber kein Verständiger 
kann diesen Satz für richtig halten. Denn daß der Kaiser die Religion 
der Landgräfin — seine eigene christliche —, aber auch das katholische Be- 
kenntnis, zu dem sie übergetreten ist, nicht haßt, sondern sehr hoch achtet, 
wissen wir aus vielen seiner Handlungen und warmherzigen Bekundungen. 
Ein evangelischer Eiferer, der den Katholizismus haßt, würde nicht der 
katholischen Kirche die Dormition in Jerusalem geschenkt, würde nicht so 
reiche Spenden an katholische Kirchen und Klöster gewandt, würde nicht 
die katholische Geistlichkeit stets so gern in seine Nähe gezogen und nicht 
einem Mönchsorden, wie den Benediktinern, seine Freundschaft so augen- 
scheinlich bekundet haben, wie Kaiser Wilhelm II. Im Jahre 1901 ist der 
Brief, wie es heißt, geschrieben und alsbald an Kardinal Kopp auzsgeliefert 
worden. Im Frühsommer des Jahres 1902, als der Brief also dem höheren 
Klerus bekannt sein mußte, teilte der Kaiser im Rathaus zu Aachen mit, 
daß ihm Papst Leo XIII. durch Generaloberst Freiherrn von Los habe 
bekunden lassen, nirgends und niemals sei es den Katholiken besser ergangen 
als im Deutschen Reich unter Wilhelm II., ein Zeugnis, das auch Papst 
Pius X. später wiederholt hat.“ 
Zu diesen Ausführungen bemerkt die „Norddeutsche Allgemeine Zei- 
tung": „Wenn nun das Hamburger Blatt, dessen grundsätnzlicher Auffassung 
über den nichtöffentlichen Charakter des Briefes wie über die Stellung des 
Kaisers zu den Konfessionen wir beitreten, eine amtliche Aufklärung über 
das Schriftstück verlangt, so möchten wir bemerken, daß amtliche Nach- 
forschungen nach seinem Verbleib noch zu keinem Ergebnis geführt haben. 
Im Nachlasse des Kardinals von Kopp hat sich der Brief, wie wir hören, 
bisher nicht vorgefunden.“ 
27. März. (Preußisches Abgeordnetenhaus.) Bei der 
Beratung des Etats der Verwaltung der direkten Steuern kommt 
es wegen des Umfanges der Bewilligungen der beantragten neuen 
Stellen für staatliche Veranlagungekommissare zu grundsätzlichen 
Erörterungen. 
In der Beratung handelt es sich um den von liberaler Seite er- 
hobenen Vorwurf, daß in den Kreisen der Agrarkonservativen im Osten 
vorzugsweise Steuerdrückerei geübt würde. Es wird das damit in Verbindung 
gebracht, daß die Steuerveranlagung vorzugsweise in den Händen der Land- 
räte sei, wodurch parteipolitische Rücksichten zur Geltung kämen. Auf diese 
und die damit zusammenhängenden Fragen beziehen sich folgende Aus- 
führungen des Finanzministers Dr. Leutze: 
„Der Vorredner hat es so hingestellt, als ob der Veranlagungs- 
kommissar vom Uebel wäre, und daß nur dann, wenn es gar nicht anders 
ginge, dieses Uebel schließlich auch hier vom Abgeordnetenhause konzediert 
werden könne. Der Abg. von der Osten hat ausgeführt, nur derjenige, 
welcher mit einer Bevölkerung enger verwachsen wäre, welcher sich der 
Interessen der einzelnen liebevoll annähme, welcher beurteilen könne, wie 
die Verhältnisse des einzelnen lägen, nur der wäre imstande, den Vorsitz 
sachgemäß führen zu können. Ich habe schon gestern ausgeführt, daß ich 
auch von dem Veranlagungskommissar, der Vorsitzender der Veranlagungs- 
kommission ist, ganz genau dasselbe verlange. Er soll sich ebenso hinein-
	        
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