Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

204 Das Deatsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 27.) 
nicht vergleichen. Die Diakonissenanstalten stehen in ganz anderem, viel 
loserem Verhältnis zur evangelischen Kirche, als die katholischen Orden zur 
katholischen Kirche tun und tun sollen. Es kommt hinzu, was nicht über- 
sehen werden kann, daß die evangelische Kirche selbst in einem ganz anderen 
Verhältnis zum preußischen Staat steht als die katholische. Die evangelische 
Kirche und den preußischen Staat krönt dieselbe Spitze, die Mitglieder der 
kirchenregimentlichen Behörden werden vom König unter Mitwirkung des 
Staates ernannt. Alles das fällt bei der katholischen Kirche weg. So ist 
denn auch das Verhältnis des Staates zur katholischen Kirche wesentlich 
anders geregelt, als dasjenige des Staates zur evangelischen Kirche, weil 
die Beziehungen ganz anders liegen. Unter den Rechten aber, die der 
Staat der katholischen Kirche gegenüber für sich in Anspruch nimmt und 
nehmen muß, befindet sich auch das Hoheitsrecht des Staates den katho- 
lischen Orden gegenüber, das ist von allers her Rechtens bei uns. Und 
wenn in einem Staate daran festgehalten werden muß, so ist es dann der 
Fall, wenn die Bevölkerung des Staates konfessionell so gemischt ist wie 
bei uns. Das ist für uns keineswegs eine Sonderheit des preußischen 
Staates. Sie finden denselben Anspruch der Staatshoheit den katholischen 
Orden gegenüber auch in anderen Staaten, vornehmlich auch in katholischen 
Staaten. Ich weiß sehr wohl, daß es Staaten gibt, die die katholischen 
Orden ebenso stellen, wie andere Vereine, die sie einfach unter das gemeine 
Recht stellen, es gibt aber auch Staaten, die die katholischen Orden völlig 
von ihren Grenzen fernhalten. Ich weise auf die Rechtslage in Spanien, 
Oesterreich-Ungarn, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen hin. Daran muß 
man festhalten, es handelt sich hier um eine grundsätzliche Frage, von der 
man nicht abkommt. Trotzdem bin ich unbeschadet dieses grundsätziichen 
Standpunktes durchaus der Meinung, daß in der Praxis ein weitgehendes 
Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Katholiken und ihrer Orden, 
namentlich dann, wenn es sich um charitative Orden und um Orden, die 
sich der Krankenpflege widmen, handelt, angezeigt ist. Ich habe hervor- 
gehoben, daß solches Entgegenkommen auch bisher in weitem Maße statt- 
gesunden hat; die Zahlen, die ich angab, sind dafür wirklich ein deutlicher 
Beweis; ihnen gegenüber fallen die wenigen Ablehnungen, die auch hier 
hervorzuheben sind und die zum Teil viele Jahre zurückliegen, doch wirk. 
lich nicht ins Gewicht. Im letzten Jahre, 1913, sind im ganzen fünf An- 
träge gestellt worden; das ist doch wirklich cine geringe Zahl. Also es soll 
bei der wohlwollenden Praxis bleiben, aber an der grundsätzlichen Stellung 
der Regierung in dieser Frage wird auch nicht gerührt werden, auch wenn 
der Antrag angenommen wird. Auch von katholischer Seite sind ja in 
dieser Beziehung Bedenken geäußert worden. Eine Prüfung der Orden 
findet nicht nur durch den Staat, sondern auch selbstverständlich durch die 
Kirche statt. Ich glaube deshalb, daß man sich mit der bisherigen preußischen 
Auffassung befreunden kann. Ich kann von neuem zugestehen, daß Anträge 
auf Ordensniederlassungen wohlwollend und entgegenkommend von seiten 
der Regierung behandelt werden. Ich kann nicht empfehlen, den Antrag 
anzunehmen. Was den Antrag anlangt, den katholischen Ordensnieder- 
lassungen die Rechtsfähigkeit zu verleihen, so habe ich schon in der Kom- 
mission mitgeteilt, daß mir diese Wunsche aus früheren Ausführungen 
in diesem Pause wohl bekannt seien und ich mich aus diesem Anlaß 
bewogen gefühlt habe, Ermittlungen über diese Frage anzustellen. 
Diese sind nunmehr abgeschlossen, und wir sind in eine Erörterung der 
Frage eingetreten. Diese Arbeit ist jedoch noch nicht abgeschlossen, so 
daß ich noch nicht in der Lage bin, zu diesem Antrage eine Stellung ein- 
zunehmen.“
	        
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