Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

374 Das Verntsche Reich und seine einzelnen Glieder. (August 3.) 
Eingriff in Souveränitätsrechte; Oesterreich-Ungarn habe versprochen, durch 
Erklärung seines territorialen Desinteressements Rücksicht auf russische Inter- 
essen zu nehmen, ein großes Zugeständnis seitens eines kriegführenden 
Staates. Man sollte deshalb die Doppelmonarchie ihre Angelegenheit mit 
Serbien allein regeln lassen. Es werde beim Friedensschluß immer noch 
Zeit sein, auf Schonung der serbischen Souveränität zurückzukommen. Sehr 
ernst habe ich hinzugefügt, daß augenblicklich die ganze austroserbische An- 
gelegenheit der Gefahr einer europäischen Konflagration gegenüber in den 
Hintergrund trete, und habe mir alle Mühe gegeben, dem Minister die 
Größe dieser Gefahr vor Augen zu führen. Es war nicht möglich, Ssasonow 
von dem Gedanken abzubringen, daß Serbien von Rußland jetzt nicht im 
Stich gelassen werden dürfe."“ 
Ebenfalls am 29. berichtete der Militärattaché in Petersburg tele- 
graphisch über eine Unterredung mit dem Generalstabschef der 
russischen Armee: „Der Generalstabschef hat mich zu sich bitten lassen 
und mir eröffnet, daß er von Seiner Majestät soeben komme. Er sei vom 
Kriegsminister beauftragt worden, mir nochmals zu bestätigen, es sei alles 
so geblieben, wie es mir vor zwei Tagen der Minister mitgeteilt habe. Er 
bot mir schriftliche Bestätigung an und gab mir sein Ehrenwort in 
feierlichster Form, daß nirgends eine Mobilmachung, d. h. Einziehung 
eines einzigen Mannes oder Pferdes bis zur Stunde, 3 Uhr nachmittags, 
erfolgt sei. Er könne sich dafür für die Zukunft nicht verbürgen, aber wohl 
nachdrücklichst bestätigen, daß in den Fronten, die auf unsere Grenzen gerichtet 
seien, von Seiner Majestät keine Mobilisierung gewünscht würde. Es sind 
aber hier über erfolgte Einziehung von Reservisten in verschiedenen Teilen 
des Reichs, auch in Warschau und Wilna, vielfache Nachrichten eingegangen. 
Ich habe deshalb dem General vorgehalten, daß ich durch die mir von ihm 
gemachten Eröffnungen vor ein Rätsel gestellt sei. Auf Offiziersparole 
erwiderte er mir jedoch, daß solche Nachrichten unrichtig seien, es möge hier 
und da allenfalls ein falscher Alarm vorliegen. Ich muß das Gespräch in 
Anbetracht der positiven, zahlreichen über erfolgte Einziehungen vorliegenden 
Nachrichten als einen Versuch betrachten, uns über den Umfang der bis- 
herigen Maßnahmen irrezuführen.“ 
Da die russische Regierung auf die verschiedenen Anfragen über die 
Gründe ihrer drohenden Haltung des öfteren darauf hinwies, daß Oester- 
reich-Ungarn noch keine Konversation in Petersburg begonnen habe, erhielt 
der österreichisch= ungarische Botschafter in Petersburg am 29. Juli auf 
unsere Anregung die Weisung, mit Herrn Ssasonow die Konversation zu 
beginnen. Graf Szapary ist ermächtigt worden, die durch den Beginn des 
Kriegszustandes allerdings überholte Note an Serbien dem russischen Minister 
gegenüber zu erläutern und jede Anregung entgegenzunehmen, die von 
russischer Seite aus noch weiter erfolgen sollte, sowie mit Ssasonow alle direkt 
die österreichisch-russischen Beziehungen tangierenden Fragen zu besprechen. 
Schulter an Schulter mit England haben wir unausgesetzt an der 
Vermittlungsaktion fortgearbeitet und jeden Vorschlag in Wien unterstüutzt, 
von dem wir die Möglichkeit einer friedlichen Lösung des Konflikts erhoffen 
zu können glaubten. Wir haben noch am 30. einen englischen Vorschlag 
nach Wien weitergegeben der als Basis der Verhandlungen ausstellte, 
Oesterreich-Ungarn solle nach erfolgtem Einmarsch in Serbien dort seine 
Bedingungen diktieren. Wir mußten annehmen, daß Rußland diese Basis 
akzeptieren würde. 
Während in der Zeit vom 29. bis 31. Juli diese unsere Bemühungen 
um Vermittlung, von der englischen Diplomatie unterstützt, mit steigender 
Dringlichkeit fortgeführt wurden, kamen immer neue und sich häufende
	        
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