Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

Vas Veutsc# Reich und seine einzelnen Glieder. (August 4.) 383 
freundschaftlich, aber nachdrücklich erklären, daß kriegerische Maßnahmen 
gegen Oesterreich uns an der Seite unseres Bundesgenossen finden würden, 
und daß militärische Vorbereitungen gegen uns selbst uns zu Gegenmaßregeln 
zwingen würden. Mobilmachung aber sei nahe dem Kriege. Rußland 
beteuert uns in feierlicher Weise seinen Friedenswunsch und daß es keine 
militärischen Vorbereitungen gegen uns treffe. Inzwischen sucht England 
zwischen Wien und Petersburg zu vermitteln, wobei es von uns warm 
unterstützt wird. Am 28. Juli bittet der Kaiser telegraphisch den Zaren, 
er möge bedenken, daß Oesterreich-Ungarn das Recht und die Pflicht habe, 
sich gegen die großserbischen Umtriebe zu wehren, die seine Existenz zu 
unterhöhlen drohten. Der Kaiser weist den Zaren auf die solidarischen 
monarchischen Interessen gegenüber der Freveltat von Serajewo hin. Er 
bittet ihn, ihn persönlich zu unterstützen und den Gegensatz zwischen Wien 
und Petersburg auszugleichen. Ungefähr zu derselben Stunde und vor 
Empfang des Telegramms bittet der Zar seinerseits den Kaiser um seine 
Hilfe, er möge doch in Wien zur Mäßigung raten. Der Kaiser übernimmt 
die Vermittlerrolle. Aber kaum ist die von ihm angeordnete Aktion im 
Gange, so mobilisiert Rußland alle seine gegen Oesterreich-Ungarn gerichteten 
Streitkräfte. Oesterreich-Ungarn selbst aber hatte nur seine Armeekorps, 
die unmittelbar gegen Serbien gerichtet sind, mobilisiert. Gegen Norden 
zu nur zwei Armeekorps und fern von der russischen Grenze. Der Kaiser 
weist sofort den Zaren darauf hin, daß durch diese Mobilmachung der 
russischen Streitkräfte gegen Oesterreich die Vermittlerrolle, die er auf Bitten 
des Zaren übernommen hatte, erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht würde. 
Trotzdem setzten wir in Wien unsere Vermittlungsaktion fort, und zwar 
in Formen, welche bis an das Aeußerste dessen gehen, was mit unserem 
Bundesverhältnis noch verträglich war. Während der Zeit erneuert Rußland 
spontan seine Versicherungen, daß es gegen uns keine militärischen Vor- 
bereitungen treffe. Es kommt der 31. Juli! In Wien soll die Entscheidung 
fallen. Wir haben es bereits durch unsere Vorstellungen erreicht, daß Wien 
in dem eine Zeitlang nicht mehr im Gange befindlichen direkten Verkehr 
die Aussprache mit Petersburg wieder ausgenommen hat. Aber noch bevor 
die letzte Entscheidung in Wien fällt, kommt die Nachricht, daß Rußland 
seine gesamte Wehrmacht, also auch gegen uns mobil gemacht hat. Die 
russische Regierung, die aus unseren wiederholten Vorstellungen wußte, 
was Mobilmachung an unserer Grenze bedeutet, notifiziert uns diese Mobil- 
machung nicht, gibt uns zu ihr auch keinerlei erklärenden Ausschluß. Erst 
am Nachmittag des 31. trifft ein Telegramm des Zaren beim Raiser ein, 
in dem er sich dafür verbürgt, daß seine Armee keine provokatorische Hal- 
tung gegen uns einnehmen würde. Aber die Mobilmachung an unserer 
Grenze ist schon seit der Nacht vom 30. zum 31. Juli in vollem Gange. 
Während wir auf russisches Bitten in Wien vermitteln, erhebt sich die 
russische Wehrmacht an unserer langen, fast ganz offenen Grenze, und 
Frankreich mobilisiert zwar noch nicht, aber trifft doch, wie es zugibt, 
militärische Vorbereitungen. Und wir? — Wir hatten (in Erregung auf 
den Tisch schlagend und mit starker Betonung) absichtlich bis dahin keinen 
Reservemann einberufen, dem europäischen Frieden zuliebe. Sollten wir 
letzt weiter geduldig warten, bis etwa die Mächte, zwischen denen wir 
eingekeilt sind, den Zeitpunkt zum Losschlagen wählten? Dieser Gefahr 
Deutschland auszusetzen, wäre ein Verbrechen gewesen! (Stürmischer, lang 
anhaltender Beifall.) Darum fordern wir noch am 31. Juli von Rußland 
die Demobilisierung, als einzige Maßregel, welche noch den europäischen 
Frieden retten könnte. Der Kaiserliche Botschafter in Petersburg erhält 
ferner den Auftrag, der russischen Regierung zu erklären, daß wir im Falle
	        
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