Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Erste Hälfte. (55a)

Das Veische Rrich und seine einzelnen Glieder. (Januar 15.) 33 
das Verhältnis Preußens zum Reich bemerkt der Redner: „Der Minister- 
prasident hat im Herrenhause das schöne Wort geprägt, daß der preußische 
Ministerpräsident den deutschen Reichskanzler nicht vor der Tür stehen lassen 
konne. Das gilt doch nicht nur im Herrenhause, sondern auch im Ab- 
geordnetenhause. Ich vertraue darauf, daß der Ministerpräsident sich dafür 
immer einsetzen wird im Interesse des Reichs und im Interesse Preußens. 
Ein Wort des Ministerpräsidenten scheint mir aber nicht ganz unbedenklich, 
er sagte im Reichstag am 4. Dezember 1913, man würde in Elsaß-Loth- 
ringen nicht vorwärts kommen, wenn man nicht von dem fruchtlosen 
Streben ablasse, aus einem süddeutschen Reichsländer einen norddeutschen 
Breußen zu machen. Das will keiner tun. Wir wollen die Stammeseigen- 
tümlichkeiten erhalten, die wir als einen großen Reichtum unseres Volkes 
ansehen, wir wollen die Persönlichkeiten des Volkes sich möglichst ausleben 
lassen. Wenn wir in dieser Beziehung in den Reichslanden dem süddeutschen 
Charakter Achtung zollen, so müssen wir allerdings auch dieselbe Achtung 
vor uns beanspruchen. Ich betone mit Nachdruck, daß schon in der Aus- 
drucksweise in Süddeutschland dieser Achtung vor unserer Art nicht immer 
genügend Rechnung getragen wird. Sogar an maßgebenden Stellen, in 
manchen Landtagen, wird von uns so gesprochen, daß auch die Regierung 
ein Interesse hätte, dagegen aufzutreten. Die Stammeseigentümlichkeiten 
sollen erhalten bleiben, aber doch nicht so weit, als es nicht mit den ge- 
somten vaterländischen Interessen des Reichs vereinbar ist. Ich meine, daß 
das Deutsche Reich die Erfüllung eines deutschen Traumes, die Vereinigung 
der gesamten Kultur des deutschen Volkes ist und daß eine höhere Kultur 
sich entwickeln wird aus der Grundlage der Kultur der einzelnen Stämme 
und etwas Neues durch die wechselseitige Durchdringung der einzelnen 
Stlämme hervorbringen muß. Dabei kann Preußen nicht auzgeschaltet 
werden, die Hauptsache in der Leitung des Deutschen Reichs muß vielmehr 
darin bestehen, daß der segensreiche Einfluß der wechselseitigen Durch- 
dringung der Stämme auch von der preußischen Eigenart ausgeübt wird, 
daß diese Eigenart in das Wesen und den Charakter der anderen Stämme 
eindringt. Ich mache der konservativen Partei zum Vorwurf, daß sie sich 
allzu sehr auf den borussischen Standpunkt stellt und die Eigentümlichkeiten 
der anderen Stämme ablehnt. Aber auf der anderen Seite verlange ich, 
daß unsere süddeutschen Volksgenossen sich willig dem Einfluß, der von 
Preußen sich auf sie erstrecken muß, sügen. Das Deutsche Reich ist nicht 
bloß äußerlich nur durch Preußen entstanden, sondern dadurch, daß auch 
die preußische staatserhaltende Gesinnung maßgebend ist. Wenn es richtig 
ist, daß die Staaten sich nur auf der Grundlage erhalten können, auf der 
sie gegründet sind, so muß dieser preußische Sinn, dieses preußische Em- 
pfinden, das sich zwar manchmal hart und schroff, aber doch klar und 
deutlich kundgibt, erhalten bleiben gegenüber der mehr nachgiebigen, mehr 
ästhetischen, mehr künstlerischen, mehr wissenschaftlichen Eigenart unserer 
Stammesbrüder. Ich habe schon einmal gesagt, preußisches Eisen und 
deutsches Blut, das ist die richtige Mischung.“ 
Ministerpräsident und Reichskanzler Dr. v. Bethmann Hollweg: 
„Benn ich an die letzten Worte des Vorredners anknüpfen kann, so sollte 
doch über meine Anschauung über den Beruf Preußens in Deutschland kein 
Zweifel bestehen, nachdem ich am vorigen Sonnabend im Herrenhaus ge- 
sprochen habe. Ich habe dort ausgeführt, daß ich es nach wie vor für den 
zwingenden Beruf Preußens halte, die ganze Kraft des Staatsgedankens, 
den Preußen verkörpert, im Reich zum Ausdruck zu bringen, nicht nur im 
Reich, sondern selbstverständlich auch in den Reichslanden, von denen der 
Vorredner gesprochen hat. Wenn ich im Reichstag gesagt habe, man solle 
Europäischer Geschichtskalender. I. V. 3
	        
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