B##s Veische Reich und seine einzeluen Glieder. (Januar 28.) 55
angegebenen Zahlen nicht die Bermehrung der Sparsummen in einem Jahre,
sondern den Gesamtbestand am Schlusse des Jahres bezeichnen wollte. Sie
werden es mir wohl glauben, und der Abg. Gothein hat mich ja selbst für
einen ernsten Mann gehalten, daß ich nicht von einer jährlichen Vermehrung
von elf Milliarden sprechen konnte, wo ich den Gesamtzuwachs an National-
vermögen nur auf acht bis zehn Milliarden in derselben Zeit geschätzt habe.
Das amtliche Material kann ja in dieser Beziehung immer nachgeprüft
werden. Den Vorwurf der Schönfärberei in meinen Ausführungen halte
ich nicht für richtig. Eher könnte man vielleicht sagen, daß sie unvollständig
waren. Darüber wird kein Zweifel sein, daß der Revers der glänzenden
Medaille, die ich gezeigt habe, zweifellos die Zustände unseres gewerblichen
Mittelstandes und die Notwendigkeit, hier bessernd einzugreifen, sind. Unser
gewerblicher Mittelstand hat an dem Aufschwung unseres heutigen Wirt-
schaftslebens zweifellos nicht so teilgenommen wie andere Erwerbsstände.
Er hat zweifellos sogar unter den Begleiterscheinungen dieser Entwicklung
direkt zu leiden gehabt. Unser gewerblicher Mittelstand ist von oben durch
die immer mehr zunehmende Konzentration der Großindustrie und von
unten durch die Entwicklung der Arbeiterschaft bedrängt worden. Die
steigenden Lohnlasten und die immer größer werdenden Ansprüche der
Sozialpolitik sind für ihn sicher schwerer zu tragen als für die Groß-
industrie. Durch all das ist der gewerbliche Mittelstand zweifellos in eine
ganz besonders ungünstige Verfassung gebracht worden. Die alten Organi-
sationen des Handwerks, wie wir sie am Anfang des vorigen Jahrhunderts
hatten, hatten sich allmählich überlebt und hatten an Ideeninhalt verloren.
Infolgedessen gab sie die Gewerbegesetzgebung der fünfziger und sechziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts preis, ohne daran zu denken, eine ge-
eignete Handhabe zu schaffen für eine Neubelebung der alten Formen oder
eine Rekonstruktion des Handwerks. Durch die vielen Angriffe von oben
und unten ist der gewerbliche Mittelstand in unzählige Teile atomisiert
worden. Als wir bemerkten, was uns droht, wenn uns dieser Mittelstand
zerrieben und vernichtet würde, wieviel wirtschaftliche und sittliche Potenzen
verloren gehen würden, da waren wir genötigt, völlig neu von unten auf-
zubauen. Die Aufgabe, die uns damals gestellt war, war die Aufrecht-
erhaltung der Betriebe, in denen eine Konkurrenz mit der Großindustrie
für das Handwerk möglich war. Eine weitere Aufgabe war die wirtschaft-
liche und technische Schulung des Mittelstandes, so daß besonders die
Qualitätsarbeit gefördert wurde. Es war ferner eine dringende Aufgabe,
dem zu rekonstruierenden Handwerk gegenüber dem immer übermächtiger
werdenden Großbetriebe eine gewisse Freiheit zu verschaffen durch Eröffnung
befserer Kreditverhältnisse. Die wichtigste Aufgabe war, die alten Organi-
sationsformen mit einem neuen Geist zu beleben, damit das Handwerk der
modernen Zeit gerecht werden könnte. Ein Teil dieser Aufgaben lag in
erster Linie auf dem Gebiete der Bundesstaaten, während der große Komplex
der Organisationsfragen in die Kompetenz des Reiches fiel, so ganz be-
sonders die Entwicklung des Genossenschaftswesens. Die Bundesstaaten
haben auf dem Gebiete der Gewerbeförderung sehr Wesentliches geleistet.
Was nicht nur in Preußen, sondern auch in Bayern und den anderen
Bundesstaaten auf diesem Gebiete geleistet worden ist, das verdient höchste
Anerkennung. Auch das Reich ist für den gewerblichen Mittelstand tätig
gewesen durch reichsgesetzliche Einführung des Fortbildungsschulzwanges,
durch das Handwerkergesetz von 1897, durch die Bestimmungen über die
Ausbildung der Gesellen, über den Schutz des Meistertitels usw. und durch
Einführung des kleinen Befähigungsnachweises. Das sind alles Bestim-
mungen, die darauf berechnet waren, den Forderungen des gewerblichen