Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

808 Kuhlam. (März 2.) 
Regierung unzuverlässige Stützen bei äußern Konflikten geworden. Sich in 
Kampfe gegen einen vom monarchischen Prinzip regierten Staate zu rehabill- 
tieren, woran den vielen unter ihnen, die im Herzen recht national empfin- 
dende Russen sind, sehr viel gelegen ist, hieße ein doppeltes Geschäft machen. 
Als Begünstiger innerer Unruhen würden sie bei einem Kriege gegen 
Deutschland sicher nicht auftreten. 
Gegen wen wird die russische Politik die Waffe, über die sie in 
wenigen Jahren verfügt, am ehesten zu kehren geneigt sein? Ohne zunächst 
in politische Erörterungen näher einzugehen, weist der rein geographische 
Aufmarsch dieser Rüstungen nach der Westgrenze, also nach Deutschland. 
Vor zwei Jahren scheute man sich noch, jetzt spricht man es offen aus, 
sogar in amtlichen militärischen Zeitschristen, daß Rußland zum Kriege 
gegen Deutschland rüste. Vergegenwärtigt man sich die wohlwollend 
neutrale Haltung Deutschlands, an die gerade die zehnjährige Wiederkehr 
der Schlachttage in der Mandschurei erinnert, so könnte man verführt 
werden, von einer beispiellosen Undankbarkeit zu sprechen. Denn so sicher, 
wie wir damals den uns den Rücken kehrenden Russen gestatteten, ihre 
Kerntruppen von der polnischen Grenze wegzuziehen, so sicher würden die 
Russen heute schon uns, wenn wir, die Front nach Westen, kämpften, 
mindestens zwingen, auch an ihrer Grenze mit einer starken Armee zu 
wachen. In drei Jahren, wenn wir mit ihnen den neuen Handelsvertrag 
abschließen müssen, wenn die Einlösung des im Potsdamer Vertrag ge- 
gebenen Versprechens fällig sein wird, sind sie vielleicht selbst gern bereit, 
die von Herrn Ssasonow in der Budgetkommission Deutschland zugemutete 
Praktik, dem andern internationale Schwierigkeiten zu machen, auszuführen. 
Auf Dankbarkeit in den Geschäften des Staates rechnen aber nur Träumer. 
Wir müssen uns einfach sagen, daß wir es nicht verstanden haben, un- 
mittelbar nach dem Kriege unsere politischen Wechsel einzulösen. Ob wegen 
mangelnden Könnens der damals verantwortlichen Männer, oder, weil die 
Ereignisse sich nicht beeinflussen ließen, einen andern Gang zu gehen, mag 
die Geschichte untersuchen. Jedenfalls lautet einer der vielen deutschfeind- 
lichen politischen Leitsätze: Deutschland hat uns in Voraussicht unserer 
Niederlagen in den unglücklichen Krieg gehetzt und uns dann durch den 
Handelsvertrag von 1904 wirtschaftlich auf die Knie gezwungen. Diese 
Auffassung findet sich auch in der oben angeführten Schrift des Fürsten 
Trubetzkoi wieder. Sie wird von der nationalistischen Hetzpresse, die von 
der größten und einflußreichsten Zeitung Rußlands geführt wird, von der 
„Nowoje Wremja“, in den verschiedensten Abwandlungen bei jeder Gelegen- 
heit in dem abstrakten Sinne wiederholt, daß Deutschland gegen Rußland 
eine macchiavellistische, auf Rußlands Zurückdrängung überall da, wo es 
expansiv vorgehen wolle, gerichtete Politik treibe. 
Es berüht zunächst paradox, daß das an Landfläche überreiche Zaren- 
reich am empfindlichsten ist, wenn es seine Expansionsgelüste bedroht glaubt. 
Bei näherm Zusehen ist dies jedoch nicht so widersinnig, wie es scheint. 
Bis zu der Stolypinschen Agrargesetzgebung war der russische Bauer 
des eigentlich landwirtschaftlichen Rayons, des Schwarzerdegebietes, fast 
ausnahmslos landwirtschaftlicher Proletarier. Bäuerliche Zwergwirtschaften 
sollten Familien ernähren, deren an die Scholle gebundene Kopfzahl sich 
seit der Fixierung des Bauernlandes 1862 vervielfacht hatte. Das hatte 
die Bauernschaft eingesehen und verlangte deshalb 1906 die Aufteilung des 
Landes der Gutsherren. Dieser Forderung ist die Regierung durch die in 
der deutschen Literatur genügend geschilderte Agrargesetzgebung begegnet. 
Der diese leitende Gedanke, Schaffung kräftiger Einzelbesitzer, ist eine so 
alte Wahrheit, daß sie keiner besondern Anerkennung bedarf. Es fragt sich
	        
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