Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

570 Großbritannien. (August 30.) 
Deutschland hat nach diesem Zeitpunkt auf keine einzige Handlung mehr 
Einfluß ausgeübt. 
In diesen Tatsachen liegt die Erklärung für den scheinbaren Wider- 
spruch, daß der Mann, der behauptete, daß er die Erhaltung des europäi- 
schen Friedens erstrebe, zugleich der Anführer der Kriegspartei war. Sir 
Edward Grey hat versucht, sich den Folgen seiner Ententepolitik zu ent- 
ziehen und den Frieden zu retten. Als ihm das jedoch mißlang, sah er 
sich genötigt, sein Land in den Krieg zu zerren. Die Versuche zur Recht- 
fertigung dieser Politik sind eitel Ausflüchte. Betrachten wir z. B. den 
Fall Belgiens näher: Seit Jahren war es bekannt, daß im Falle eines 
Krieges zwischen Frankreich und Rußland auf der einen und Deutschland 
auf der andern Seite für Deutschland die einzig mögliche Kriegstaktik darin 
bestehen könne, Frankreich geradenwegs anzugreifen und zu dem Ende durch 
belgisches Gebiet zu ziehen und danach seine Kräfte mit den Russen zu messen. 
Diese Pläne waren unserm Kriegsministerium bekannt. Sie wurden zur 
Zeit des Agadirhandels öffentlich besprochen und in einzelnen Zeitungen 
öffentlich behandelt. 1870 hatte Gladstone erklärt, daß in einem „allgemeinen 
Kriege"“ die formale Neutralität verletzt werden könnte. Deutschlands mili- 
tärische Absichten waren uns durch die Erkundungen unseres geheimen 
Späherdienstes sehr wohl bekannt. Wir wußten, daß der Weg durch Belgien 
einer der Hauptpunkte von Deutschlands Kriegführung war. 
Es ist allgemein bekannt, daß ein Volk nicht gern kämpft, wenn das 
Ziel des Krieges eines idealistischen Anfluges entbehrt. Die „Daily Mail“ 
lieferte den Idealismus für den südafrikanischen Krieg, indem sie dem Volk 
vorlog, es würden in Südafrika englische Frauen und Kinder mit der Nil- 
pferdpeitsche traktiert. Für den gegenwärtigen Krieg sorgte die Regierung 
für Idealismus, indem sie uns weismachte, daß wir die Unabhängigkeit 
Belgiens beschützen würden. Noch bevor über diesen Punkt unsere Regierung 
Deutschland und Frankreich auf den Zahn gefühlt hatte, wußte sie bei ihrer 
ausgiebigen Kenntnis der militärischen Lage in beiden Ländern, daß Frank- 
reich in der Lage war, eine befriedigende Antwort erteilen zu können, wo- 
gegen Deutschland dazu nicht imstande war. 
So viel über die Tatsache. Es ist so, schließt Macdonald, ein Krieg, 
den ein halbes Dutzend Diplomaten hervorgerufen haben. Bis zu dem 
Augenblick, wo die einzelnen Botschafter abberufen wurden, lebten die Völker 
friedlich nebeneinander ohne Haß und Neid. Ein halbes Dutzend Männer 
sonl Europa an den Rand des Abgrundes geführt und Europa ist hinein- 
gestürzt. 
In derselben Nummer des „Labour Leader“ findet sich ein Aufruf 
der Unabhängigen Arbeiterpartei Englands. 
Darin heißt es in demselben Sinne: 
Es ist ebenso unrichtig, zu sagen, daß die englische Politik völlig 
weiß und die deutsche Politik völlig schwarz gewesen ist, wie zu sagen, daß 
die deutsche Politik völlig richtig und die englische völlig verwerflich ist. 
Selbst wenn jedes Wort im englischen Weißbuch wahr ist, fehlt doch die 
weitere Beweisführung. Es sei zugegeben, daß Grey in den Tagen, die 
dem Krieg unmittelbar vorausgingen, für den Frieden arbeitete. Das war 
aber zu spät; er hatte selbst viele Jahre lang mit den anderen Diplomaten 
den Abgrund gegraben, und ein wahres, weises Staatsmannsgenie hätte 
das sichere Resultat vorausgesehen und vermieden. Nicht die serbische Frage 
und nicht die belgische Frage haben England in diesen tödlichen Kampf hinein- 
ezogen. Es handelt sich weder um unterdrückte Nationalitäten noch um 
elgiens Neutralität. Selbst wenn Deutschland Belgiens Neutralität nicht 
verletzt hätte, wären wir in den Krieg hineingezogen worden. Wer glaubt
	        
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