Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiunddreißigster Jahrgang. 1916. Zweiter Teil. (57b)

IL. 
Die österreichisch-ungarische Monarchie. 
1. Jan. Neujahrskundgebungen. 
Armeeoberkommandant FM. Erzherzog Friedrich erläßt einen Armee- 
bejehl, in welchem er den dem Kaiser unterbreiteten Neujahrswunsch und 
die Antwortdepesche mitteilt. Mit dem Deutschen Kaiser wechselt der Feld- 
marschall bundestreue Glückwünsche. . 
Der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza empfängt die Mit- 
glieder der Nationalen Arbeitspartei, die ihm ihre Neujahrswünsche über- 
dringen. Bei diesem Anlaß führt T. über die politische Lage aus: 
Der Hauptgrundsatz in der nationalen Politik muß darin bestehen, daß 
wir auf die nichtungarischen Stämme, die unser Vaterland bewohnen, 
eine starke Anziehungskraft ausüben. Das verflossene Jahr war reich an 
herzerhebenden Erfahrungen. Diejenigen unter uns haben recht behalten, 
die an der Hingebung und der Treue aller Volksstämme niemals gezweifelt 
haben. Wir haben in diesem Kriege so recht beobachten können, daß der 
laufendjährige ungarische Staat nicht bloß das Vaterland von zehn Millionen 
Ungarn, sondern von zwanzig Millionen ungarischer Staatsbürger ist, die 
mit vollkommen gleicher Treue und Hingebung in der schweren Zeit der 
Not treu zum Vaterland gestanden haben. Dies gilt auch im höchsten 
Maße für Kroatien und Slawonien, denn die großserbische Agitation, deren 
abgrundtiese Bösartigkeit wir erst unmittelbar vor dem Kriege erkannt 
haben, bedroht auch die kroatische Nation. Ungarn konnte gegen die groß- 
serbische Bewegung nicht kämpfen ohne die Hilfe der Kroaten. Aber das 
kroatische Volk wird von dieser Bewegung tödlich getroffen, wenn es nicht 
vereint mit dem Ungartum aufs entschiedenste gegen sie auftritt. Was 
Oesterreich betrifft, so dürfen wir wohl hoffen, daß der Krieg endgültig 
alles weggefegt hat, was einer gegenseitigen Verständigung und dem Zu- 
sammenwirken bisher im Wege gestanden hat. Ich glaube, daß es heut- 
zutage keinen österreichischen Patrioten gibt, der nicht in der Stärkung des 
nationalen ungarischen Staates die wichtigste Voraussetzung für das Ge- 
deihen und die Konsolidation der Monarchie erblickt. Der österreichische 
Patriotismus findet bei uns stets das lebhafteste Verständnis und die wärmske 
Sympathie. Für uns Ungarn ist es ja ein Lebensinteresse, daß Oesterreich 
stark und aktionsfähig sei. Wir haben es in Ungarn stets als unsere Auf- 
gabe betrachtet, die staatserhaltenden Kräfte in Oesterreich zu unterstützen. 
Allerdings muß der österreichische Patriotismus sich von der alten Vor- 
stellung der gesamtstaatlichen Tendenz befreien. Ich hoffe zuversichtlich, daß 
der Krieg eine definitive Klärung der Ideen in dieser Richtung gebracht 
hat, und daß man in Oesterreich ohne jeden Vorbehalt den Dualismus 
und die Parität zwischen Oesterreich und Ungarn annehmen und daß man 
einsehen wird, daß sich der österreichische Patriotismus am besten mit 
Unterstützung der ungarischen Nation verwirklichen lasse. Ich kann meine 
Ansprache nicht beenden, ohne unsere gemeinsamen Gedanken und Gefühle 
mit Bezug auf unsere Bundesgenossen zum Ausdruck gebracht zu haben. Das 
Europäischer Geschichtskalender. I.VII2. 1