Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

196 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
Homer zu sprechen. Jedes Gedicht war ein Ereigniß, ward in ausführ- 
lichen Briefen und Kritiken betrachtet, zergliedert, bewundert. Alle die 
unvermeidlichen Unarten literarischer Epochen, Klatsch und Parteigeist, 
Gefühlsschwelgerei, Paradoxie und eitler Selbstbetrug hatten freies Spiel; 
doch selbst aus den Schwächen der Zeit sprach die Lebenskraft und Lebenslust 
eines hochbegabten und hochsinnigen Geschlechtes, dem die Welt der Ideen 
die allein wirkliche war. Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die 
göttliche Anarchie des päpstlichen Roms, weil sie den Denker im Sinnen und 
Schauen nicht störe: — was galten ihm die Römer von Fleisch und Blut 
neben den Geisterstimmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans 
redeten? Im selben Sinne beklagte Schiller die Leere seines revolutionären 
Zeitalters, das den Geist aufrege ohne ihm einen Gegenstand — das will 
sagen: ein ästhetisches Bild — zu bieten. 
Wer den tiefen heiligen Ernst dieses Idealismus und die Fülle geistiger 
Kräfte, welche er zu seiner Durchbildung aufbrachte, gerecht würdigt, der 
wird die politische Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räthselhaft finden. 
Die Kargheit der Natur setzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen 
ein festes Maß, verhängt über jedes große menschliche Wirken den Fluch 
der Einseitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Geschlecht von solcher Energie 
des geistigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den listigen Welt- 
sinn, den entschlossenen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be- 
sitzen sollen, welche den unerhörten Gefahren der politischen Lage allein 
Trotz bieten konnten. Wie Luther seines Gottes voll für die Bilderpracht 
des leoninischen Roms kaum einen Blick übrig hatte, so wendeten die Helden 
der neuen deutschen Bildung absichtlich ihre Augen hinweg von der Ver- 
heerung, die über den deutschen Südwesten dahinfluthete, und dankten mit 
Goethe dem Schicksal, „weil wir in der unbeweglichen nordischen Masse 
stecken, gegen die man sich so leicht nicht wenden wird."“ 
In der Freundschaft Schiller's und Goethe's fand die menschliche 
Liebenswürdigkeit und die schöpferische Macht der neuen Bildung ihren 
vollendeten Ausdruck. Die Deutschen rühmten sich von Altersher, kein 
anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreundschaft, das neidlose treue 
Zusammenwirken großer Menschen zu großem Zwecke so oft gesehen; und 
unter den vielen schönen Freundschaftsbünden ihrer Geschichte war dieser 
der herrlichste. Zehn reiche Jahre hindurch überschütteten die beiden Freunde 
ihr Volk unablässig mit neuen Geschenken und bewährten selbander den 
Goethischen Spruch: Genie ist diejenige Kraft des Menschen, welche durch 
Handeln und Thun Gesetz und Regel giebt. Und in solcher Fülle des 
Schaffens gaben sie doch nur einen Theil ihres Wesens aus; sie wußten, 
daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als seine 
Werke. 
Unvergeßlich prägte sich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild 
künstlerischer und menschlicher Größe: wie diese beiden durch Schicksal,
	        
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