1857 Wilhelm Prinz von Preußen. 285
fern lag ihm der Gedanke, Reformator der christlichen Kirchen
zu werden. Seine Frömmigkeit war, wie das Evangelium,
Matthäi am 6., es vorschreibt, ohne Prunken noch Kopfhängen,
ohne Rechthaberei und Unduldsamkeit. Aber sie war das
Brod seines Lebens, der Trost seiner Schmerzen, das Richt-
maaß seines Handelns. Aus seinem Glauben erwuchs ihm
ein unbedingtes Gottvertrauen, das sein ganzes Wesen er-
füllte, und in allen Bedrängnissen aufrecht erhielt, ganz nach
dem alten Worte: weil ich weiß, daß ich ohnmächtig bin in
Gottes Hand, bin ich stark gegenüber aller Welt. So war
er bis zur Angstlichkeit gewissenhaft bei jeder Erwägung, und
absolut furchtlos bei jeder Gefahr. Es war das nicht bloß
der ritterliche Muth aus Nervenreiz oder Ehrliebe, die Worte
Furcht und Gefahr hatten für ihn überhaupt keinen Sinn.
Er schritt durch das Leben, niemals zagend, niemals prahlend,
stets in innerem Gleichgewicht.
Er gehörte nicht zu den genialen oder dämonischen
Naturen, welche entweder durch überragende Geisteskräfte
dem Jahrhundert neue Bahnen vorzeichnen, oder mit un-
widerstehlicher Leidenschaft sich und ihr Volk von schwindeln-
der Höhe in furchtbare Abgründe stürzen. Nicht einmal
geistreich, in dem Sinne, wie sein älterer Bruder geistreich
war, wird man ihn nennen können. Dafür war er, was
von Rudolf von Habsburg ein gleichzeitiger Chronist rühmt,
ein ausrichtiger Mann. Er besaß den praktischen Ver-
stand, zwischen zutreffenden und schlechten Rathschlägen zu
unterscheiden, neben einer fortdauernd wachsenden Sicherheit
des Urtheils in der Wahl seiner Rathgeber. Nach seiner
selbstlosen Gewissenhaftigkeit hat er niemals einen Schritt
gegen seine wohldurchdachte Überzeugung gethan, war aber