354 Deutsche Reformfragen. 1860
zu weit gegangen; jedoch der Beschluß sei einmal gefaßt und
müsse respectirt werden. Als das preußische Abgeordneten-
haus darauf im April nach einer äußerst lebhaften Verhandlung
die Regierung aufforderte, in der Vertheidigung des hessischen
Landesrechts unerschütterlich fest zu bleiben, antwortete der
Württemberger Staatsanzeiger mit einer heftigen Polemik
gegen die gesammte preußische Politik. In Cassel aber
arbeitete die Regierung, dem Bundestagsbeschluß entsprechend,
das Grundgesetz von 1852 um, nahm eine Anzahl der frühern
ständischen Anträge und damit eine homöopathische Dosis
ständischer Berechtigung in den Text auf, und publicirte die
so erwachsene Verfassungsurkunde am 30. Mai 1860. Es
kam zunächst darauf an, welche Wirkung sie damit im Lande
erzielen würde.
Während auf solche Art über die Grundgesetze des deutschen
Bundes ein heftiger Streit entbrannt war, führte ein Umschlag
in der großen europäischen Politik noch einmal eine über-
raschende Demonstration deutscher Einmüthigkeit herbei.
Kaiser Napoleon, in der Klemme zwischen den Anforde-
rungen Osterreichs, des Papstes und des französischen Klerus
auf der einen, und den in Plombieres von ihm halbwegs an-
erkannten Bestrebungen der italienischen Nationalpartei auf
der andern Seite, hatte zuerst mit Österreich Abrede ge-
nommen, zur Ordnung der italienischen Verhältnisse einen
Congreß der fünf Großmächte zu berufen. Dann aber fand
er, daß weder Osterreich noch der Papst zu den in Villa-
franca und Zürich verabredeten innern Reformen irgend welche
Anstalten träfen, und folglich auch er sich an diese Verträge
nicht weiter zu binden brauche. Trat er dagegen wieder mit
Sardinien in freundschaftliches Benehmen, so konnte er auf