Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Die Lage im Juli 1014 100 
die gesteigerte Explosivkraft der Entente in gewissem Umfang durch 
kühlere Besinnung ausglich. 
Denn das halbe Jahrhundert friedlichen Wachstums hatte uns zu- 
letzt schwer angreifbar gemacht. Kabinett und öffentliche Meinung 
Englands fanden es mehr und mehr im eigenen Interesse, uns als 
besten Kunden am Weltgeschäft teilnehmen zu lassen. Indem sich 
England an diesen Gedanken mehr gewöhnte, traten auch in Deutsch- 
land diejenigen zurück, welche die englische Vormacht als etwas Gott- 
gegebenes, deutsche Macht aber als etwas Ungewohntes und Uner- 
laubtes empfunden hatten. Auch solche, die sich früher darauf ein- 
gestellt hatten, England nur ja nicht durch eine eigene Marine zu 
„reizen“, begannen angesichts der höflicheren Behandlung des mäch- 
tiger gewordenen Deutschen Reiches sich in einem durch eigene Kraft 
geachteten und geschützten Vaterland wohlzufühlen. Wir hatten die 
unvermeidliche „Gefahrenzone“ des Flottenbaues nahezu durchlaufen 
und unser Ziel, die friedliche Gleichberechtigung mit England, stand 
vor seiner Erfüllung. 
England befürchtete von uns keinen Angriff. Dafür bürgte ihm 
unsere ungünstige seestrategische Lage im nassen Dreieck, welche die 
hohe Schlagkraft unserer Marine nicht aufhob, aber beengte und beim 
Mangel seekräftiger Verbündeter den Wunsch nach einem Krieg bei 
keinem verantwortlichen Deutschen erzeugen konnte. Dafür bürgte ebenso 
das Verhältnis von fünf deutschen zu acht englischen Geschwadern, 
mit welchem auch wir uns als Endziel zufrieden erklärt hatten, ferner 
die wohlbekannte Friedensliebe des Kaisers und über alles das hinaus 
die einfache Grundtatsache unserer Weltstellung, daß wir im Frieden 
und durch den Frieden gewannen, wie niemals auch im glorreichsten 
Kriege denkbar war. 
England und Deutschland erfuhren beide an sich die Wahrheit des 
alten Spruches: Si vis pacem, para bellum, den der Deutsche erst 
nach unglücklichen Jahrhunderten der Selbstvernichtung durch seine 
großen preußischen Könige begriffen hatte. Handel und Wandel stiegen 
in beiden Ländern reißend empor; die Wehrlasten wurden spielend 
getragen und wirkten im vollständigsten Sinne produktiv. Am 
politischen Horizont zeichnete sich der Zustand wirklichen Gleich- 
gewichts ab. 
Die britischen Staatsmänner freilich betonten in ihren Gesprächen
	        
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