Eine Denlschrift Helfferichs 145
wie ich oben bemerkte, seinen alten Überlieferungen, im Krieg gegen
die jeweils stärkste festländische Konkurrenzmacht zu wachsen. Mit
puritanischem Pharisäertum war die praktisch-utilitaristische britische
Politik, beherrscht von den Interessen des angelsächsischen Kapitals, ganz
einheitlich entschlossen, das Deutschtum um so härter und unerbittlicher
zu bekämpfen, je näher bis zum Juli 1914 schon die Möglichkeit gelegen
hatte, daß wir uns friedlich durchsetzten. Wie konnte man glauben,
daß England die Chance nicht voll ausnützen würde, die ihm jetzt
gegeben war, um den ihm beinahe schon über den Kopf gewachsenen
Wettbewerber doch noch, und zwar in letzter Stunde, niederzuschlagen!
England steigerte seine Kriegsentschlossenheit, je mehr es sie bei uns
vermißte. Lloyd Georges Einfluß wuchs über denjenigen Asquiths
empor. Bei uns vollzog sich die umgekehrte Entwicklung; die entschlossene
Richtung wurde zurückgedrängt. Dieser Weg mußte mit Sicherheit
zur Niederlage führen.
Zu der Weltanschauung der Wilhelmstraße gehörte dann noch weiter
der unbezwingliche fromme Glaube, daß einem flottenlosen Deutsch-
land das „Überflügeln“ Englands willig eingeräumt würde, während
einem seemächtigen Deutschen Reich das nicht gestattet wäre. Wenn
der Kanzler und seine Leute auf eine rasche und völlige Freundschaft
mit England nach dem „Gewittersturm“ rechneten, so glaubten sie
dies eben durch Preisgabe der deutschen Flotte erzielen zu können.
Noch im Oktober 1918 haben deutsche Politiker unter Preisgabe des
Ubootskriegs die Gnade der Angelsachsen zu erkaufen gewähnt. Das
Erwachen Deutschlands nach dem November 1918 war grausam.
Bessere Erkenntnis nützt jetzt nichts mehr.
Mein Standpunkt war: Entweder wir hielten England für un-
besiegbar und nahmen dann die Niederlage je eher desto besser an.
Oder aber wir versuchten durch Einsatz aller militärischen und politischen
Mittel Englands Unbesiegbarkeit zu erschüttern. Praktisch kam für
mich selbstverständlich nur der zweite Weg in Frage. Dann mußte man
aber klar den Weg sehen, den man gehen wollte. Alles Klügeln und
Harren, das nicht von dieser Alternative ausging, führte ins Ver-
derben. Hiervon, nicht aus Ressorterwägungen irgendwelcher Art, sind
meine Kämpfe für die Besetzung der Kanalküste, für die Seeschlacht
und für den rechtzeitigen Ubootskrieg ausgegangen.
Tirpitz, Erinnerungen 10