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Es könnte ein Deutscher behaupten, durch eine völkerrechtswidrige Handlung
des Deutschen Reiches selbst geschädigt worden zu sein, und könnte darauf
Schadenersatzansprüche gegen das Reich gründen. Der Fall liegt sogar vor.
Ein aus Belgien stammender Reichsdeutscher hat mir gegenüber folgenden
Standpunkt vertreten: Sein in Belgien zurückgelassenes Eigentum sei ge-
schädigt worden, dieser Schade wäre nicht eingetreten, wenn das Deutsche
Reich nicht die belgische Neutralität verletzt hätte, der Reichskanzler habe am
4. August 1914 im Reichstage den Völkerrechtsbruch nicht nur zugestanden,
sondern ausdrücklich Schadenersatz versprochen — also könne er von dem
Reich jetzt für den durch den Völkerrechtsbruch ihm entstandenen Schaden
Ersatz verlangen, wobei er den Anspruch sowohl ganz allgemein auf den
Rechtsbruch, wie auf die besondere Zusicherung des Reichskanzlers stützen
zu können glaubtet). So wenig diese Auffassung nach geltendem Recht be-
gründet erscheint, so bezeichnend ist sie für das Rechtsempfinden des Volkes.
Man wird bei der gesetzlichen Regelung des Kriegsschadenersatzes außer
der Frage der Durchführbarkeit die Anforderungen in Rücksicht ziehen
müssen, die das Rechtsempfinden des Volkes gerade an ein solches Gesetz
stellt. Versprechungen, die von maßgebender Stelle aus gemacht worden
sind, mögen sie auch vom reinen Rechtsstandpunkt aus noch keine Verbind-
lichkeit erzeugen, man wird sie doch als schwerwiegende Verpflichtungs-
gründe ansehen müssen. Für die Frage des Kriegsschadens fehlt es nicht
an solchen der Allgemeinheit gemachten Versprechungen, die einzulösen man
alle Mühe aufwenden soll. Da kommt zunächst § 35 des Kriegsleistungs-
gesetzes von 1873 als Verheißung des Gesetzgebers in Betracht, ferner die
bereits genannte Erklärung des Reichskanzlers, daß der aus dem Angriff
gegen Belgien sich ergebende Schade Ersatz finden solle, auch andere
Außerungen des Reichskanzlers, wie die: die Welt solle erfahren, daß keinem
Deutschen ungestraft ein Haar gekrümmt werden dürfe. Dieses Wort hat,
wie mir aus Mitteilungen von Auslandsdeutschen aus ü#bersee bekannt ge-
worden ist, im Auslande weithin Widerhall gefunden und Hoffnungen er-
weckt, die man nicht zuschanden werden lassen darf. Auch die preußischen
Bestimmungen über die Kriegsschäden in den östlichen Provinzen weisen auf
ein nach § 35 des Kriegsleistungsgesetzes zu erlassendes Gesetz hin2). Frei-
lich muß hier, wie bei allen Fragen des Kriegsschadens, hervorgehoben
werden, daß alle Ansprüche auf Kriegsschaden immer unter der doppelten
Voraussetzung stehen müssen: Es muß ein besonders schweres Opfer vor-
liegen, und der Geschädigte muß außerstande sein, sich selbst helfen zu
können.
1) Damals wurde allerdings noch angenommen, es läge wirklich Belgien gegen-
über ein Neutralitätsbruch vor, eine Annahme, die sich längst als irrig erwiesen hat.
2) Siehe Anmerkung 2 auf Seite 63.