Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 79 
  
nationalen Aufgaben des Reiches. Eine deutsche KRegierung, die aus eigener parteipolitischer 
Voreingenommenheit die nationale Bereitwilligkeit einer Partei zurückstieße, der die natio- 
nalen Opfer einer Partei deshalb weniger wertvoll erschienen, weil ihre allgemeine politische 
Richtung der Regierung nicht behagt, würde unnational handeln. Für die Regierung ist an 
jeder Partei die Intensität der nationalen Gesinnung das weitaus Bedeutsamste. MWit einer 
im Grunde national zuverlässigen Partei wird und muß zu arbeiten sein. Denn eine 
solche Partei wird bei der in Deutschland oft so schweren Wahl zwischen dem Interesse 
der Allgemeinheit und dem der Partei in großen Fragen sich doch zuletzt in nationalem 
Sinnebeeinflussen lassen. Diesen gesunden Optimismus braucht kein deutscher Minister sich 
nehmen zu lassen, mag er für den gewöhnlichen Lauf der Politik den Parteien noch so 
steptisch gegenüberstehen. Der feste Glaube an die endliche Sieghaftigkeit des nationalen 
Gedankens ist die erste Voraussetzung einer wahrhaft nationalen Politik. Das herrliche 
Wort, das Schleiermacher im dunklen Jahr 1807 sprach: „Deutschland ist noch immer 
da, und seine unsichtbare Kraft ist ungeschwächt"“ sollte jedem deutschen Politiker Tag und 
Nacht vor Augen stehen. Dieser Glaube darf gerade uns Deutschen nicht fehlen in den 
Frrungen und Wirrungen unseres Parteihaders, die den Durchbruch spontanen National- 
gefühls noch immer so flüchtig erscheinen lassen wie eine seltene Feiertagsstimmung. 
Ein Rückblick auf das Schicksal der deutschen Wehrvorlagen ist gleichzeitig ein 
Blick auf die Wandlungen des nationalen Gedankens innerhalb der Parteien. ODie 
Konservativen haben volles Recht auf den Ruhm, dem Vaterlande noch niemals 
einen Mann verweigert zu haben, und auch die Nationalliberalen haben noch nie 
das Schicksal einer Wehrvorlage in Frage gestellt. In dieser nationalen Hinsicht 
vornehmlich stehen die alten Kartellparteien an erster Stelle, und es war nicht nur für 
sie, sondern für das Reich ein Verlust, daß die Wahlen von 1890 ihre Mehrheit zerstörten 
und zugleich die Aussicht auf eine Wiedergewinnung dieser Mehrheit. Dem neuen 
Reichstag von 1890 hatte Fürst Bismarck eine Militärvorlage vererbt, die dann kleiner 
eingebracht wurde, als sie dem Altreichskanzler vor seinem Rücktritt vorgeschwebt hatte. 
Graf Capriovi forderte 18000 Mann und 70 Batterien. Trotzdem der greise Moltke 
für die Vorlage sprach, war ihr Schicksal lange Zeit ungewiß. Eugen Nichter lehnte für 
den gesamten Freisinn ab. Die Vorlage wurde von den Kartellparteien mit Hilfe des 
Zentrums bewilligt, das Zentrum aber knüpfte an seine Zustimmung für später die 
Forderung der zweijährigen Dienstzeit. 
Schon die große Militärvorlage des ZJahres 1893, die durch die unter dem Bedarf 
gebliebenen Forderungen der vorangegangenen Vorlage so bald notwendig wurde, 
zeigte, auf wie unsicheren Füßen die nationale Mehrheit der bürgerlichen Parteien 
stand. Das Zentrum brachte seine Verstimmung über das Fehlschlagen seiner schul- 
politischen Hoffnungen in Preußen der Militärvorlage gegenüber zum Auedruck. Trotzdem 
seine Forderung der zweijährigen Dienstzeit durch die neue Vorlage erfüllt wurde, konnte 
es sich nicht entschließen, für die Vorlage zu stimmen. Im Freisinn rang der nationale 
Gedanke damals nach Luft. Aber nur 6 freisinnige Abgeordnete fanden sich schließlich 
zur Zustimmung bereit. Flüchtig regte sich 1893, sechzehn Zahre vor dem Zustande- 
kommen, die Hoffnung auf ein Zusammengehen von Konservativen und Liberalen mit 
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