Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
82 Innere Politik. . I. Buch. 
Lage maßgebend und Erwägungen ernster finanzpolitischer Natur. Keine der bürger- 
lichen Parteien von der äußersten Rechten bis zum Freisinn hat daran gedacht, ihre Zu- 
stimmung zur Wehrvorlage selbst von den Schwierigkeiten und Meinungsverschieden- 
heiten in der Deckungsfrage abhängig zu machen. Oer nationale Gedanke hat bei allen 
bürgerlichen Parteien feste und dauerhafte Wurzeln geschlagen. Eine notwendige 
und begründete Militär- und Flottenvorlage wird nach menschlichem Ermessen bei uns stets 
auf eine sichere parlamentarische Mehrheit rechnen können. An der Erreichung dieses 
Erfolges hat die Blockära einen sehr wesentlichen Anteil gehabt. 
Wenn die Verstärkung der nationalen Front als eine blei- 
bende Frucht der parlamentarischen Kämpfe des Winters 
1906 und der Kombination von 1906/1909 angesehen wer- 
den darf, so hat der im Jahre 1907 über die Sozialdemokratie errungene große Wahlsieg 
leider nicht die dauernden Früchte getragen, die er hätte tragen können und sollen. Trotzdem 
war der Ausfall jener Wahlen von eminenter Bedeutung. Die Tatsache, daß die Sozial- 
demokratie von 81 Mandaten zurückgeworfen wurde, zurückgeworfen werden konnte auf 
43 Mandate, hat eine weit über den einzelnen Wahlkampf hinausreichende Tragweite. 
Die Redensart von einem Zufallssieg ist der Ausdruck parteipolitischer Unwahrhaftig- 
keit oder bedauerlicher Gedankenlosigkeit. Solche Zufälle gibt es in der Politik so wenig 
wie im Leben. Auch in der Politik hat jede bedeutsame Wirkung ihre entsprechende Ur- 
sache. Ohne zureichenden Grund verliert eine so fest organisierte Partei wie die 
Sozialdemokratie nicht 44 Wahlkreise, wird ihr Mandatsbestand nicht um 36 Sitze redu- 
ziert. Ihren 44 Verlusten standen 1907 nur 8 Gewinne gegenüber. ODer nationalen 
Parole allein konnte der Erfolg nicht zugeschrieben werden. Unter einer solchen Parole 
fanden auch im Jahre 1893 die Neuwahlen nach der Auflösung statt, und sie brachten doch 
der äußersten Linken einen erheblichen Gewinn nicht nur an Stimmen, sondern, was 
für den Gang der gesetzgeberischen Arbeit allein von praktischer Bedeutung ist, an Man- 
daten. Die Gründe für den sozialdemokratischen Mandatsverlust bei den Wahlen von 
1907 lagen in der vorher in Parlament und Presse, in Reden und Aufklärung geleisteten 
Vorarbeit, in der Erfassung des rechten Augenblicks für die Auflösung des Reichstags, 
in der richtigen Behandlung und Einschätzung der Imponderabilien und in der Zügel- 
führung während des Wahlkampfs. 
Es ist unrichtig, einen Wahlsieg über die Sozialdemokratie deshalb gering zu be- 
werten, weil dem Mandatsverlust nicht ein entsprechender Verlust an sozialdemokra- 
tischen Stimmen zur Seite steht. Gewiß wäre es noch besser, wenn es gelänge, der Sozial- 
demokratie nicht nur im Reichstag Boden abzugewinnen, sondern auch einen Teil ihrer 
Anhänger- und Zuläuferschaft in das nationale Lager hinüberzuziehen. Aber dieser 
doppelte Erfolg ist einstweilen schwer zu erringen und nur unter politischen Berhältnissen, 
wie sie sich bisher noch nicht geboten haben. Seit dem FJahre 1884 bewegt sich die Zahl 
der bei den Reichstagswahlen abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen durchaus 
in aufsteigender Richtung. Es wurden rund an sozialdemokratischen Stimmen ab- 
gegeben: 
Wahlkampf gegen die 
Sozialdemokratie. 
  
  
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