1. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. —
die Kapitulation der Obrigkeit vor der Revolution. Und das mit Recht, wenn die Regie-
rung nach einem halben Jahrhundert des Kampfes kein anderes Ende sähe als einen faulen
Frieden mit dem Gegner. Die Folgen einer Schwäche gegenüber der Sozialdemokratie
würden in Preußen heute verhängnisvoller sein, als es die Schwäche gegenüber der
Märzrevolution war. Und ee ist doch die Frage, ob sich wieder ein Bismarck finden würde,
der die nicht durch Niederlagen, sondern erst durch Unentschlossenheit und übertriebene
Lachgiebigkeit, dann durch ein oft verständnis- und geistloses Kückwärtsbremsen ge-
schwächte Autorität der Krone wiederherstellen könnte. Der preußische Beamte, der
preußische Militär, der mit seinen Anschauungen in preußischen Traditionen wurzelnde
preußische Staatsbürger braucht zur hingebenden Treue an die monarchische Regierung
das Vertrauen in die Kraft der Regierung. Eine Verständigung mit der Sozialdemokratie,
die man in Süddeutschland vielleicht als einen Akt politischer Klugheit verstehen würde,
wäre in Preußen ein Triumph der Sozialdemokratie über die Regierung und über die
Krone. Eine ungeheure Vermehrung der sozialdemokratischen Mitläuferschaft wäre die
nächste Folge. In Preußen hält heute die dem Preußen im Blut liegende altererbte
Königstreue weite Volkskreise von der Sozialdemokratie zurück. Einer gleichsam königlich
privilegierten Sozialdemokratie würden Hunderttausende ohne Skrupel folgen. Anstatt
die Sozialdemokratie dem bestehenden Staat zu gewinnen, würden in Preußen nur zahl-
lose, in ihren politischen Begriffen verwirrte gute Staatsbürger der Sozialdemokratie
in die Arme getrieben werden. Die Sozialdemokratie würde nicht geschwächt, sondern
verstärkt aus einem solchen Ausgleich hervorgehen, und sie würde gar nicht daran denken,
sich dem Staat ernstlich zu nähern und sich dem Staat zuliebe zu ändern, wenn der Staat
ihr ohnehin entgegenkommt. In Preußen wäre das Experiment der Verständigung nur
denkbar, wenn die Sozialdemokratie zuvor offen und in aller Form ihren Frieden mit
der Monarchie gemacht hat. Ehe das nicht geschehen ist, kann die preußische Regierung eine
Politik der Versöhnung gegenüber der Sozialdemokratie nicht versuchen, ohne befürchten
zu müssen, den preußischen Staatsorganismus zu zerstören. Die Sozialdemokratie haßt
die Adlermonarchie, „welche die eine Schwinge in den Nie#men, in den Rhein die andre
taucht", sie haßt in Preußen den Staat der Ordnung, das Herz- und Kernstück des
Deutschen Reichs, den Staat, ohne den es kein Deutsches Reich gäbe, dessen Könige
Deutschland geeinigt haben, mit dem die Zukunft des Reiches steht und fällt. Das
Wort Bebels, daß die Sozialdemokratie alles gewonnen hätte, wenn sie Preußen
gewonnen hat, ist wahr. Es ist aber auch wahr, daß im Kampf gegen eine starke
Regierung Preußen für die Sozialdemokratie schwer oder gar nicht zu erobern ist,
daß aber an der Seite der Regierung kein deutscher Staat so leicht von der Sozial-
demokratie erobert werden kann wie Preußen.
Oie Eigenart der preußischen Verhältnisse muß selbstverständlich auf das Reich ein-
wirken. Es ist auf die Dauer nicht möglich, sich im Reich über wichtige Fragen der Gesetz-
gebung mit der Sozialdemokratie zu verständigen, in Preußen am schärfsten Gegensatz zur
Sozialdemokratie festzuhalten. Die Reichstagswahlen lassen sich nicht unter ganz anderen
Gesichtspunkten leiten wie die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus. Zu einer
Verständigung im Reich wird sich die Sozialdemokratie schwerlich bereit finden lassen,
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