Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
  
8 Auswärtige Politik. I. Buch. 
und Ansprüchen fremder Nationen. Solange die Frage der deutschen Einigung nur ein 
innerpolitisches Probleim war, ein Problem, um das vorwiegend zwischen den Parteien 
und zwischen Regierung und Volk gehadert wurde, konnte sie eine Fürsten und Völker 
mitreißende gewaltige zwingende nationale Bewegung nicht erzeugen. Als Bismarck 
die deutsche Frage hinstellte als das, was sie im Kern war, als eine Frage der europäischen 
Politik, und als sich bald die außerdeutschen Gegner der deutschen Einigung regten, 
da gab er auch den Fürsten die Möglichkeit, sich an die Spitze der nationalen Bewegung 
zu stellen. 
In Frankfurt, in Petersburg, in Paris hatte Bismarck den Mächten Europas in 
die Karten gesehen. Er hatte erkannt, daß die Einigung Deutschlands eine reine deutsch- 
nationale Angelegenheit nur so lange bleiben konnte, wie sie frommer Wunsch und un- 
erfüllbare Hoffnung der Deutschen war, daß sie eine internationale Angelegenheit 
werden mußte mit dem Moment, in dem sie in das Stadium der Verwirklichung eintrat. 
Der Kampf mit den Widerständen in Europa lag auf dem Wege zur Lösung der großen 
Aufgabe der deutschen Politik. Anders als in einem solchen Kampfe aber waren die Wider- 
stände in Deutschland selbst kaum aufzulösen. Damit war die nationale Politik der inter- 
nationalen eingegliedert, die Vollendung des deutschen Einigungswerkes durch eine un- 
vergleichliche staatsmännische Schöpferkraft und Kühnheit den ererbt schwächsten Fähig- 
keiten der Heutschen, den politischen, genommen und den angeborenen besten, den 
kriegerischen, zugewiesen. Eine günstige Fügung wollte es, daß Bismarck einen Feld- 
herrn wie Moltke, einen militärischen Organisator wie Roon an seiner Seite fand. Die 
Waffentaten, die uns unsere europäische Großmachtsstellung zurückgewonnen hatten, 
sicherten sie zugleich. Sie nahmen den Großmächten die Lust, uns den Platz im euro- 
päischen Kollegium wieder zu entreißen, den wir in drei siegreichen Kriegen erobert 
hatten. Wenn uns dieser Platz auch ungern eingeräumt worden war, so ist er uns doch 
seitdem nicht ernstlich bestritten worden. Frankreich ausgenommen, hätte sich wohl 
alle Welt mit der Machtstellung Deutschlands allmählich befreundet, wenn unsere Ent- 
wicklung mit der Reichsgründung beendet gewesen wäre. Die staatliche Einigung ist 
aber nicht der Abschluß unserer Geschichte geworden, sondern der Anfang einer neuen 
Zukunft. In der vordersten Reihe der europäischen Mächte gewann das Deutsche Reich 
wieder vollen Anteil am Leben Europas. Das Leben des alten Europa aber war schon 
lange nur noch ein Teil des gesamten Völkerlebens. 
Deutschland als Weltmacht. Die Politik wurde mehr und mehr Weltpolitik. 
Die weltpolitischen Wege waren auch für Deutsch- 
land geöffnet, als es eine mächtige und gleichberechtigte Stelle neben den alten Groß- 
mächten gewann. Die Frage war nur, ob wir die vor uns liegenden neuen Wege be- 
schreiten oder ob wir in Besorgnis um die eben gewonnene Macht vor weiterem Wagen 
zurückschrecken solltem. In Kaiser Wilhelm llI. fand die Nation einen Führer, der ihr 
mit klarem Blick und festem Willen auf dem neuen Wege voranging. Mit ihm haben 
wir den weltpolitischen Weg beschritten. Richt als Konquistadoren, nicht unter Aben- 
teuern und Händeln. Wir sind langsam vorgegangen, haben uns das Tempo nicht vor- 
  
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