I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 95
die überlegene Einsicht, der starke Wille eines Mirabeau die liberale Bourgecisie an der
Monarchie fest- und von den Jakobinern fernhielt, lag die relativ ruhige Uberleitung
Frankreichs in die Formen des konstitutionellen Königtums im Bereich der Möglichkeit.
Als nach seinem Tod die Gironde an den Berg heranrückte, und das Bürgertum sich mit
den städtischen Massen gegen die Anhänger des alten Regimes und die konstitutionellen
Monarchisten verbündete, war der Untergang der Monarchie und des alten Frankreichs
besiegelt und für immer besiegelt. Einer ähnlichen Koalition zwischen Kopf und Faust
erlag nach kaum fünfzehnjährigem Bestand im Jahre 1830 die Restauration der legitimen
Monarchie. In den Märzstürmen von 1848 war die Revolution erfolgreich, weil die Massen
Unterstützung und Führung in den gebildeten Schichten fanden. Wo das Proletariat isoliert
gefochten hat, wie in der Pariser Zunischlacht und während der Kommune, ist es noch immer
unterlegen. Ein isoliertes Proletariat, mag es an sich noch so zahlreich sein, istimmer nur eine
Minderheit im Volke. Auch den vier Millionen sozialdemokratischer Wähler vom Zahre 1912
stehen noch immer acht Millionen nicht sozialdemokratischer Wähler gegenüber. Auf sich
selbst angewiesen, kann das Proletariat die numerische Mehrheit im Volk nicht gewinnen.
Das ist nur möglich, wenn ihm vom Bürgertum Sukkurs kommt. Oas in erster Linie gilt
es zu verhindern. Die Sozialdemokratie kann nur isoliert werden, wenn der Liberalismus
von ihr ferngehalten, an die Regierung und zur Rechten hinübergezogen wird. Das ist
aber nicht zu erreichen durch ölige Ermahnungen an den Liberalismus, er möge doch um
Gottes Willen den roten Nachbarn meiden. Die Trennung des Liberalismus von der
Sozialdemokratie kann nur bewirkt werden im Zuge der praktischen Politik durch eine
entsprechende Gruppierung der Parteien. In der Aufgabe, die Sozialdemokratie von
der bürgerlichen Intelligenz zu trennen, liegt einer der Gründe, aus denen auch innerlich
ganz oder überwiegend konservatio gerichtete Minister so regieren müssen, daß der Libe-
ralismus nicht abgestoßen wird.
Oie sozialistischen Träume müssen an
sich etwas Bestechendes haben für den
vielfach noch von Not umgebenen, umseine und seiner Familie Existenz schwer ringenden Ar-
beiter. Mein Amtsvorgänger, Fürst Hohenlohe, pflegte den Sozialismus den Traum des
armen Mannes zu nennen. Das ungeschulte Urteilsvermögen des einfachen Mannes wird
den bestrickenden Sophiemen der sozialistischen Lehre nur zu leicht erliegen. Es sind doch
große Hoffnungen, die die Sozialdemokratie vor den Arbeitern aufrichtet, blendende Ver-
sprechungen, die sie ihnen gibt. Und es ist eine alte Wahrheit, daß die Menschen an nichts
so sehr hängen wie an ihren Hoffnungen, daß sie, vor die Wahl gestellt zwischen einer
großen Hoffnung und einer kleinen Erfüllung, die Hoffnung wählen. Wir dürfen nicht
aufhören, unseren lohnarbeitenden Mitbürgern die Wahrheit vorzuhalten, daß die sozia-
listischen Versprechungen trügerisch sind, daß der Sozialismus nicht das große Wunder
vollbringen wird, Not, Sorge und wirtschaftlichen Kampf zu beseitigen, daß die handgreif-
liche soziale Fürsorge, die der bestehende Staat, die bestehende Gesellschaft leisten, mehr
wert ist als die nie erfüllbaren Versprechungen der Sozialdemokratie. Wir müssen un-
beirrt um die Seelen unserer Arbeiter ringen, müssen suchen, den sozialdemokratischen
Sozialdemokratie und Arbeiterschaft.
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