Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
96 Innere Politik. l. Buch. 
  
Arbeiter dem Staat, der Monarchie zurũckzugewinnen, den nicht sozialdemokratischen Ar- 
beiter von der Sozialdemokratie fernzuhalten. Noch ist eine große Zahl von Arbeitern 
der sozialdemokratischen Werbung nicht erlegen. Es stehen den 2 530 390 in den so- 
genannten freien, den sozialdemokratischen Gewerkschaften organisierten Arbeitern noch 
1314 799 in nicht sozialdemokratischen Gewerkschaften und Vereinen organisierte Arbeiter 
gegenüber. Und zwar: 
Katholische Arbeitervereinen 683458 574 
Evangelische Arbeitervereine 180 000 
Christliche Gewerkschaften 360 000 
Staatsarbeiter- u. Angestelltenverband . 120 ooo 
Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften . 109225 
Hierzu kommen die katholischen und evangelischen Gesellen- und Zugendvereine in einer 
Gesamtmitglied3zahl von 468 223 und vor allem die große Zahl der in Gewerkschaften 
noch nicht organisierten Industrie- und Landarbeiter. In der Arbeit der Zugendwehr, 
des Zungdeutschlandbundes sind wertvolle Ansätze geschaffen zur Fernhaltung der Zugend 
von den Werbeversuchen der Sozialdemokratie. Ist die sozialdemokratische Organisation 
auch fest und stark, so sind ihr gegenüber doch schon Organisationen im Werden und 
Wachsen, die bei geschickter Benutzung zur Basis eines erfolgreichen Kampfes gegen die 
Sozialdemokratie werden können und neue Organisationen werden sich schaffen lassen. 
Die Monarchie, die am Anfang des vorigen Jahrhunderts ohne gewaltsame Erschütterung 
den Ubergang gefunden hat vom alten zum neuen Staatswesen, fübrte ich am 20. Januar 
1903 im Reichstag aus, ist auch heute stark und einsichtig genug, um diejenigen Abelstände, 
die neben vielen Lichtseiten die moderne Entwicklung mit sich gebracht hat, die sich in allen 
vorgeschrittenen Ländern finden, und die wir zusammenfassen unter dem Namen „oziale 
Frage“, zu mildern und so weit zu beseitigen, wie dies möglich ist auf dieser unvoll- 
kommenen Erde. An diesem Glauben dürfen wir nicht irre werden, trotz oder gerade 
wegen der Stärke und Anziehungskraft der Sozialdemokratie auf unsere deutsche Arbeiter-- 
schaft. Wir führen den Kampf gegen die Sozialdemokratie nicht, um den Arbeiter zu 
treffen, sondern um den Arbeiter den sozialdemokratischen Umgarnungen zu entziehen 
und an den Staatsgedanken zu gewöhnen. Wir dürfen den Haß der Sozialdemokratie 
gegen die besitzenden und gebildeten Volksklassen nicht erwidern mit Haß gegen die in den 
Bann der sozialdemokratischen Propaganda gezogenen Arbeitermassen. Wir sehen auch 
im Arbeiter den Mitbürger. Wir ehren auch am Arbeiter Gottes Angesicht. Und was wir 
zur Erleichterung seiner schweren wirtschaftlichen Lage tun, das tun wir nicht allein der 
Politik wegen, sondern aus Pflichtgefühl und nach Gottes Gebot. Wir haben gerade 
seit dem Anfang des neuen JFahrhunderts den großartigen Bau unserer sozialpolitischen 
Gesetzgebung fortgeführt und zum Teil vollendet, nicht weil wir eine so starke Sozial- 
demokratie haben, sondern trotzdem wir sie haben. Ze reiner unser Gewissen gegenüber 
der Arbeiterschaft ist, weil wir in großzügiger Sozialpolitik das Menschenmögliche für 
die Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage tun, mit desto besserem Recht können wir den 
von der Staatsraison gebotenen Kampf führen gegen die politische Ziele verfolgende 
Sozialdemokratie. 
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