Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
  
os Innere Politik. I. Buch. 
Hürde anreiten können, sonst wird es nichts Kechtes.“ Dieser Bemerkung des Fürsten 
Hohenlohe ließen sich manche ähnliche Außerungen des Fürsten Bismarck zur Seite 
stellen. Regierungen und Minister dürfen Kämpfen nicht aus dem Wege gehen. 
Notwendiger als die Reibung der Parteien aneinander bedarf ein gesundes Volk der 
NReibung an der Regierung. Diese Reibung erzeugt die belebende Wärme, ohne 
die das politische Leben der Nation am Ende langweilig wird. Der Deutsche hat 
nun einmal von jeher das tiefgefühlte Bedürfnis, sich zuweilen an seiner Obrigkeit 
zu stoßen. Nichts verdrießt ihn mehr, als wenn er fühlt, daß dem Stoß nicht 
widerstanden, sondern ausgewichen wird. Und man wird immer finden können, daß 
die Parteien ihre Gegensätze dann am meisten verschärfen, wenn die Regierung sich ab- 
geneigt zeigt, sich ihnen zu gelegentlichem Renkontre zu stellen. Die alte deutsche Lust am 
Kampfe, die wir aus Geschichte und Sage kennen, lebt in unserem politischen Leben fort. 
Oie beste Politik ist dem Deutschen nicht die, die ihm ungestörte Nuhe läßt, sondern die, 
die ihn in Atem, im Kampf hält und am Ende gelegentliche Kraftproben gestattet, mit 
einem Worte eine Politik, die durch ihre eigene Lebendigkeit Leben zu erwecken versteht. 
Freilich besteht ein Unterschied zwischen politischem Kampf und politischer Ver- 
ärgerung. Zener wirkt belebend, diese vergiftend. Im Volk versteht man wohl zu er- 
kennen, ob die Regierung ihre Kraft im Großen erprobt oder im Kleinen mißbraucht. Vom- 
Herrn im Staat gilt dasselbe wie vom Hausherrn. Die Haustyrannen sind meist Schwäch- 
linge, die willensstarken Männer sind daheim im Kleinen weitherzig und nachsichtig, weil 
sie ihre Kraft im Großen brauchen. Durch eine Politik der Nadelstiche macht sich eine Re- 
gierung nur unbeliebt, ohne sich Ansehen zu erwerben. Nichts erzeugt leichter Unzufrieden- 
heit mit dem Bestehenden, nichts wirkt radikalisierender auf die Volksstimmung als eng- 
herziger Bureaukratismus, polizeiliche Ungeschicklichkeit und vor allem Eingriffe und 
Ubergriffe auf geistigem Gebiet, auf dem ein Kulturvolk mit vollem Recht von der Politik 
unbehelligt bleiben will. Ee ist nicht eine spezifisch deutsche, sondern eine allgemein mensch- 
liche Eigentümlichkeit, daß persönlich erlittene Unbill, persönlich erlebter Arger über Miß- 
griffe der Verwaltungsorgane, tiefer und dauernder im Gedächtnis zu haften pflegen als 
die beste, die fundierteste politische Uberzeugung. Die Zahl derer, die aus solchen Motiven 
mit dem sozialdemokratischen Stimmzettel gegen Staat und Obrigkeit demonstrieren, 
ist Legion. Aus der Blüte der Bureaukratie saugt die Sozialdemokratie oft den besten 
Honig. Man muß im Ausland gelebt haben, um ganz zu ermessen, was Deutschland 
und was insbesondere Preußen an seinem Beamtentum besitzt, das von großen 
Regenten und ausgezeichneten Ministern aus dem kostbaren Stoff deutscher Treue und 
Gewissenhaftigkeit, Arbeitslust und Arbeitskraft geformt, auf allen Gebieten Unvergleich- 
liches geleistet hbat. Wenn vor dem Deutschen, der in die Heimat zurückkehrt, das Land 
zwischen Alpen und Ostsee, Maas und Memel heute daliegt wie ein wohlgepflegter 
Garten, so verdanken wir das nicht zum geringsten Teil unserem Beamtentum. Oieses 
Beamtentum wird auch in Zukunft um so Größeres leisten, je mehr es unter Wahrung 
seiner traditionellen Vorzüge sich freihält von unseren alten Erbfehlern Pedanterie und 
Kastengeist, je freier sein Blick, je humaner seine Haltung im Verkehr mit allen Be- 
völkerungsklassen, je aufgeklärter seine Denkungsart. Nachgiebigkeit, Vorurteilslosigkeit 
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