1I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 99
im lleinen sind durchaus zu vereinen mit rücksichtsloser Energie im großen. Gerade
im Hinblick auf die Stärke und Gefährlichkeit unserer Sozialdemokratie ist es not-
wendig, daß die Regierenden zu unterscheiden wissen zwischen dem Reich bürgerlicher
Freiheit, das mit Nachsicht verwaltet werden muß, und dem Reich öffentlicher, staatlicher
Herrschaft, das mit Kraft und Festigkeit zu regieren ist. So irreführend der Vergleich
deutscher und ausländischer Zustände im allgemeinen ist, bier ist ein Gebiet, auf dem
England Mufster und nachahmenswertes Vorbild ist. So rücksichtslos in England jede
Störung der öffentlichen Ordnung unterdrückt wird, so peinlich rücksichtsvoll werden die
lleinlichen Schikanen vermieden, die dem einzelnen Freiheit und Behaglichkeit stören.
Oie deutsche Staatsverdrossenheit ist in England fast unbekannt. Aber der Engländer
ist nicht zuletzt deshalb ein so guter Staatsbürger, weil er in seinem Staat ein so freier
Privatmann sein darf. Die bei uns noch vielfach schwankenden Grenzen der Wirksamkeit
des Staates stehen in England fest.
Niemand wird heute glauben, daß die Sozialdemokratie in absehbarer Zeit aufhören
wird, in unserem öffentlichen Leben eine Macht und eine große Gefahr zu sein. Der Kampf
gegen sie ist aber keineswegs zur Aussichtslosigkeit verurteilt. Die Sozialdemokratie ist in
ihrer parlamentarischen Machtstellung sehr wohl verwundbar. Die Wahlen von 1907 haben
gezeigt, in wie nachdrücklicher Weise sie getroffen werden kann. Die sozialdemokratische
Bewegung kann auf das Proletariat isoliert und nach allen geschichtlichen Erfahrungen
der Aussicht auf einen schließlichen Sieg beraubt werden, wenn es gelingt, sie vom Bürger-
tum zu trennen. Wenn der Staat dem Arbeiter vorurteilslos und gerecht begegnet,
es ihm erleichtert, sich als Vollbürger zu fühlen und sozialpolitisch seine Pflicht tut, so“
muß und wird es ihm gelingen, die Arbeiterfrage in nationalem Sinne zu lösen.
Durch das scheinbar kleine, an Wirkung aber bedeutsame Mittel geschickter und weitherziger
Staatsverwaltung ist es möglich, den Strom der sozialdemokratischen Zuläufer abzu-
stauen. Endlich kann die rücksichtslose Energie in der Unterdrückung eines jeden Versuchs,
die öffentliche Ordnung zu stören, der Sozialdemokratie die Aussichtslosigkeit solcher etwa
im großen Maßstabe geplanten Versuche vor Augen halten. Solange die Sozialdemo-
kratie nicht die Voraussetzungen erfüllt, die ich vor bald elf Zahren ihr gegenüber als die
unerläßliche Vorbedingung einer Milderung der Gegensätze zwischen ihr und uns bezeich-
nete, solange sie nicht den Boden der Vernunft, der Legalität betritt, nicht ihren Frieden
mit der monarchischen Staatsordnung schließt, nicht darauf verzichtet, Gefühle zu ver-
letzen, die der großen Mehrheit des deutschen Volkes heilig sind, solange sie bleibt, wie
sie ist, wird der Kampf gegen sie eine unerläßliche Pflicht der Regierung sein. Die Re-
gierung darf diesen Kampf nicht den Parteien überlassen, sie muß ihn selbst führen.
Denn die sozialdemokratische Bewegung bedroht nicht nur die eine oder die andere Par-
tei in ihrem Bestande, sie ist eine Gefahr für das Land und die Monarchie. Dieser Ge-
fahr muß die Stirn geboten werden durch eine groß und vielseitig angelegte nationale
Politik unter der festen Führung zielbewußter und tapferer Regierungen, die es ver-
stehen, die Parteien, sei es im guten, sei es durch Kampf, unter die Kraft des nationalen
Gedankens zu beugen.
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