Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
— gnnere Politik. I. Buch. 
  
Pflicht, die selbst dann erfüllt werden müßte, wenn rein wirtschaftlich die Landwirt- 
schaft weniger bedeutete, als dies tatsächlich der Fall ist. Wenn auch die Landwirt- 
schaft ihre ehemals überragende Bedeutung im gesamten Wirtschaftsleben nicht mehr 
bat, so behauptet sie sich doch noch ebenbürtig neben den anderen Gewerben. Zwar ge- 
hören ihr nach der Berufszählung von 1907 nur noch 17,68 Millionen der Bevölkerung 
an gegen 26,38 Millionen, die von der Industrie leben, aber der Wert ihrer Produktion 
hält der industriellen Produktion die Wage, oder übertrifft diese sogar. Die Produk- 
tionsstatistik läßt es an zureichenden Daten fehlen, und die Streitfrage, ob die Land- 
wirtschaft oder die Industrie größere Werte produziere, läßt sich nicht bündig zugunsten 
des einen der beiden Erwerbszweige entscheiden. Mancher Stadtbewohner wird aber 
doch erstaunt sein, zu hören, daß der Wert eines einzigen landwirtschaftlichen Erzeugnisses, 
der WMilch, im Jahre 1906: 2,6 Milliarden Mark betrug, während der Wert sämtlicher 
Bergwerkserzeugnisse im gleichen Jahre sich nur auf 1,6 Milliarden Mark bezifferte. Die 
von agrarischer Seite wie von industrieller vorgenommenen Schätzungen des Wertes 
der gesamten landwirtschaftlichen und industriellen Produktionen widerstreiten ein- 
ander. Ob aber nun hinsichtlich des Wertes der Produktion Landwirtschaft oder In- 
dustrie die erste Stelle behauptet, das besagt im Grunde weder etwas für noch wider das 
eine der beiden großen Gewerbe. Sie sind uns beide notwendig, und es könnte für den 
Niedergang des einen durch den Aufstieg des anderen niemals vollgültiger Ersatz geschaf- 
feen werden. Um den wahren wirtschaftlichen Wert der Produktionen zu berechnen, 
müßte zudem noch festgestellt werden, in welcher Weise landwirtschaftliche und indu- 
strielle Produktion auf die Belebung und Werte schaffende Kraft des Handels einwirken. 
Und selbst dann wäre noch in Betracht zu ziehen, daß der Produktionswert von den Preis- 
schwankungen auf dem Weltmarkt beeinflußt wird. Diese Fragen haben für die wissen- 
schaftliche Durchforschung des wirtschaftlichen Lebens mehr Interesse als für die prak- 
tische politische Behandlung der wirtschaftlichen Kräfte. 
Außerer und innerer Markt. Der Induftrie stehen ale Absatzgebiete der äußere 
Markt, d. h. das kontinentale und überseeische 
Ausland, und der innere Markt, das Vaterland zur Verfügung. Die Entwicklung 
unseres Eisenbahnnetzes, unsere natürlichen Wasserstraßen, unsere Kanäle und der 
unter dem Schutze der deutschen Flotte emporblühende überseeische Verkehr haben 
in unserer Zeit den äußeren Markt gleichsam mehr und mehr in die Nähe gerückt. 
Die Industrie bedarf des Absatzes im Auslande, um ihre Betriebe im gegenwärtigen 
Umfange aufrecht erhalten, ausdehnen und Millionen von Arbeitern ausreichend 
lohnende Beschäftigung gewähren zu können. Deshalb hat die Wirtschaftspolitik die 
Pflicht, durch günstige und langfristige Handelsverträge den Außenmarkt offenzuhalten. 
Aber daneben behauptet der innere Markt seine große Bedeutung. Er würde auch be- 
rufen sein, den Auslandmarkt zu ersetzen, wenn sich in Kriegszeiten unsere Landesgren- 
zen ganz oder zum Teil schließen sollten. Auf dem inneren Markt aber ist die Landwirt- 
schaft der erste und wichtigste Kunde der Industrie. Nur wenn die Landwirtschaft kauf- 
kräftig bleibt, wenn sie selbst genug verdient, um andere verdienen zu lassen, kann sie in 
  
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