110 gnnere Politik. I. Buch.
gilt es, einen Weg zu finden, auf dem Landwirtschaft, Handel und Industrie gleichmäßig
und Seite an Seite vorwärtskommen können.
Lie Caprioi-Marschallsche Zollpolitik. Durch ein momentanes Stagnieren
der Ausfuhr veranlaßt, hatte sich die
Caprivi-Marschallsche Zollpolitik ganz auf die Seite der Handelsverträge gelegt. Um
einen raschen Abschluß günstiger Handelsverträge möglichst glatt erreichen zu können,
wurde dem Auslande die Herabsetzung der Getreidezölle auf den Tisch gelegt. Die Mei-
nung lluger Geschäftsleute, daß die Ansprüche der Gegenpartei sich nach dem Maße
des eigenen Entgegenkommens vergrößern, erwies sich aber schließlich als richtig. Der
wichtige Handelsvertrag mit Rußland, das von der Herabsetzung unserer Getreidezölle
sehr großen Rutzen hatte, kam erst nach Verhandlungen von vollen drei Jahren, die durch
einen Zollkrieg unterbrochen wurden, zum Abschluß. Den Preis für die Handelsverträge
hatte die Landwirtschaft bezahlen müssen, die durch die Verminderung der Kornzölle
von M.5.— auf M. .50 für die Dauer von zwölf Zahren unter wesentlich ungünstigeren
Bedingungen wirtschaften mußte. Das bedeutete, wie sich Bismarck damals ausdrückte,
einen Sprung ins Dunkle. Die Handelsverträge selbst haben natürlich auf den Handel
außerordentlich belebend gewirkt. Aber es geschah auf Kosten eines großen, mit dem
gesamten wirtschaftlichen Wohlergehen der Nation ebenso wie mit unseren großen vater-
ländischen Traditionen unlösbar verbundenen Erwerbsstandes, der sich zurückgesetzt fühlte
und in leidenschaftliche Bewegung und Aufregung geriet. Es ist nicht zu verkennen, daß
durch eine Wirtschaftspolitik, die mit einer Benachteiligung eines Erwerbsstandes Vor-
teile für die anderen bezahlte, die wirtschaftlichen Gegensätze in der Nation vertieft
wurden. Die Landwirtschaft war bis zu Beginn der neunziger Jahre im großen und
ganzen einträchtig mit den anderen Gewerben Hand in Hand gegangen. Aun setzte sie
sich zur Wehr, schuf im Zahre 1893 im Bunde der Landwirte eine starke Organisation,
die, wie es allen wirtschaftlichen Interessenperbänden eigen ist, allmählich schroffer und
schroffer in Haltung und Forderungen wurde. Der Glaube, daß der Handel und die
Exportindustrie gewinnen, wenn die Landwirtschaft verliert, stammt aus der ersten Hälfte
der neunziger Zahre. Dieser Zrrtum hat in unsere innere Politik ein Moment des Haders
und der Unruhe getragen, das seitdem oft störend und entwicklungshemmend empfunden
worden ist.
Der Zolltarif 1902 und Die Aufgabe des neuen Jahrhunderts mußte es sein,
im Interesse der Landwirtschaft einen gerechten wirt-
schaftspolitischen Ausgleich zu gewinnen. Das war
nötig, nicht nur aus Gründen staatlicher Gerechtigkeit, sondern vor allem, weil es sich zeigte,
daß der Glaube, die Landwirtschaft würde trotz der Zollherabsetzung prosperieren können,
irrig gewesen war. Och brachte deshalb im Zahre 1901 den neuen Zolltarif ein, auf
Grund dessen neue Handelsverträge unter Berücksichtigung der gerechten Interessen der
Landwirtschaft abgeschlossen werden sollten. Dadurch, daß der Handelspolitik ein agrar-
politischer Unterbau gegeben wurde, gewann unser nationales Wirtschaftsleben an innerer
seine Gegner.
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