I. Buch. III. Wirtschaftspolitik. 113
Stunde schmählich im Stich, ging in der Erregung zu weit. Aber Tatsache war, daß
eine große wirtschaftliche Interessenvertretung damals die Lebensinteressen des von ihr
sonst mit Klugheit und Energie vertretenen Gewerbes ohne die Festigkeit der Regierung
und die Einsicht der konservativen Führer schwer geschädigt haben würde. Ein Fall, der
leider nicht einzig dasteht in der an Verirrungen reichen Geschichte der inneren Politik
unseres Vaterlandes.
Hie Folgen des Zoll- Wit den Bolltarifgesetzen von 1902 gewann unsere
tarifgesetzen von 1902. Wirtschaftspolitik wieder den dem Interesse der #ll-
gemeinheit unentbehrlichen agrarischen Einschlag. Re-
ben der mächtig aufblühenden Weltwirtschaft wurde die Erhaltung einer kräftigen hei-
matlichen Wirtschaft gesichert. Die deutsche Landwirtschaft hat unter dem Einfluß des
neuen Tarifs und der auf seiner Basis abgeschlossenen neuen Handelsverträge ein Jahr-
zehnt kräftiger Entwicklung erlebt. Unsere kernigen und fleißigen Landwirte gewannen
das Bewußtsein zurück, daß das Reich an den Erfolgen ihrer Arbeit Anteil nimmt, in
der Landwirtschaft nicht das wirtschaftliche Stiefkind, sondern das gleichberechtigte und
sogar erstgeborene Kind der Mutter Germania sieht. Die Zahl der landwirtschaftlichen
Betriebe hat sich von 1895 bis 1907 um fast 180 000 vermehrt. Der Viehbestand ist ge-
waltig gewachsen, das Rindvieh um etwa 3 Millionen Stück, Schweine um 5,3 Millionen
Stück im gleichen Zeitraum. Noggen wurden 1909 11,5 Millionen Tonnen gegen 6,6
Millionen Tonnen im Jahre 1895, Weizen 3,75 Millionen Tonnen gegen 2,80 Millionen
Tonnen, Gerste 3,5 Millionen Tonnen gegen 2,4 Millionen Tonnen, Hafer 9,1 Millionen
Tonnen gegen 5,2 Millionen Tonnen, Kartoffeln 46,7 Millionen Tonnen gegen 31,7
Millionen Tonnen geerntet. Mit anderen Ländern verglichen, hat sich die Produktioität
unserer Landwirtschaft während des letzten Jahrzehnts ganz außerordentlich entwickelt.
Noch im Sommer des Jahres 1902 nicht lange vor der zweiten Beratung des Holl-
tarifgesetzes, mußte der Geschichtschreiber der deutschen Landwirtschaft Dr. Frhr. v. d.
Goltz die einleitenden Betrachtungen seines Werkes mit der Feststellung schließen, daß
„durch Vorgänge auf dem Gebiete der nationalen Volkswirtschaft und der Weltwirtschaft
Über die deutsche Landwirtschaft eine kritische Zeit hereingebrochen sei“. Heute weisen
die berufenen Kenner der landwirtschaftlichen Verhältnisse mit Stolz hin auf die blühende
Entwicklung, den wachsenden Wert der Produktion und die gestiegene und immer weiter
steigerungsfähige Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft.
Oie landwirtschaftliche Entwicklung hat sich aber nicht vollzogen auf Kosten der
Entfaltung unserer Exportindustrie und unseres Handels. Die freihändlerischen Prophe--
ten, die bei den Debatten der Zahre 1901 und 1902 vorausgesagt hatten, die agrar-
politische Korrektur der Wirtschaftspolitik werde den „Handel einschränken“, haben
unrecht behalten. Diejenigen, die geglaubt hatten, es würde mit der Waffe eines erhöhten
Agrarzolles der Abschluß vorteilhafter und langfristiger Handelsverträge nicht gelingen,
hatten die weltwirtschaftliche Stellung Deutschlands unterschätzt. Deutschland hatte mit
seinem neuen Tarif in der Hand keineswegs den anderen Staaten zu wenig zu bieten,
es hatte 1891 zu viel geboten. Bei Einleitung der Caprivi-Marschallschen Zoll- und Han-
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