114 Innere Politik. I. Buch.
delsvertragspolitik war man unter anderem davon ausgegangen, daß uns das Uber-
gewicht unserer Einfuhr über die Ausfuhr zu besonderem Entgegenkommen zwingen
müßte, um uns die auswärtigen Absatzmärkte in weiterem Maße zu erschließen. In
der Tat lag gerade in unserer großen Einfuhr, unserer Kaufkraft die beste Stärke unserer
Position für die Handelsvertragsabschlüsse. Wir durften Entgegenkommen beanspruchen,
weil wir so vortreffliche Kunden des Auslandes sind. Das Verhältnis zwischen Einfuhr
und Ausfuhr ließ sich mit gutem Erfolge für die Handelsverträge umgekehrt verwerten,
wie es zu Anfang der neunziger Jahre geschehen war. Der von 1891 bis 1894 heiß um-
kämpfte Handelsvertrag mit Nußland kam zwischen dem Grafen Witte und mir in Nor-
derney im Juli 1904 relativ glatt zum Abschluß. Es folgten die anderen Verträge, ohne
daß sich der neue Zolltarif irgendwie als unüberwindliches Hindernis gezeigt hätte. Zn-
dustrie und Handel haben unter den auf Grund des Zolltarifs von 1902 abgeschlossenen
Handelsverträgen ihre glänzende Entwicklung unbeirrt fortsetzen können. Die Zahl der
Berufszugehörigen der Industrie und des Handels ist in ständigem Wachsen, ebenso die
Zahl der großen Betriebe. Das reißende Anwachsen des allgemeinen Wohlstandes, vor-
wiegend durch Industrie und Handel verursacht, liegt klar zutage. Die amtliche Statistik
zählte, als ein Beispiel unter vielen, im Zahre 1909 4579 Erwerbsgesellschaften, die über
ein eigenes Kapital von 15,86 Milliarden Mark verfügen und jährlich etwa eine Milliarde
an Dividenden verteilen. Die großen Privatbanken haben sich zu wirtschaftlichen und
auch wirtschaftspolitischen Mächten entwickelt. Der deutsche Import im Gesamthandel
stieg von 1903 bis 1911 von 6,3 Milliarden auf 10,5 Milliarden, der Export von 85,3
Milliarden auf 8,7 Milliarden. Und der Entwicklung des Außenhandels folgend ver-
mehrte sich die deutsche Handelsflotte (in 1000 Brutto-Reg. Tons) von 2650 t im Jahre
1900 auf 4267 t im Jahre 1909, auf 4467 t im Jahre 1911. Auf deutschen Werften stieg
der Bau von Schiffen einschließlich Flußfahrzeugen und Kriegeschiffen von 385 im Jahr
1900 auf 814 im Jahre 1909 und auf 859 im Jahre 1911. Da gleichzeitig gerade im
letzten Jahrzehnt die soziale Fürsorge nicht nur für die lohnarbeitenden Klassen weiter
ausgebaut, sondern auch auf den Mittelstand ausgedehnt worden ist, darf gesagt wer-
den, daß alle Erwerbsstände bei der agrarpolitischen Wendung unserer Wirtschafts-
politik ihr fortdauernd gutes Gedeihen behauptet und entfaltet haben, während die
Landwirtschaft aus kritischen Zeiten heraus gehoben und in die allgemeine aufsteigende
Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens eingereiht worden ist.
In wirtschaftlicher Hinsicht in erster Linie hat das deutsche Bolk Grund, mit dem
Entwicklungsfazit der letzten JZahrzehnte zufrieden zu sein und zu wünschen, daß die ein-
geschlagenen und bewährten Wege nicht verlassen werden. Dem Handel und der A#us-
fuhrindustrie sind die durch die Znaugurierung der Handelspolitik zu Anfang der neun-
ziger Jahre gewonnenen Vorteile in vollem Maße erhalten geblieben. Die gesamte
deutsche Industrie hat sich des ihr im Jahre 1878 gewährten Zollschutzes unverändert
erfreuen können. Einzelne Mängel des Caprivischen Tarifs sind durch den Tarif von 1902
zugunsten der Zndustrie abgeändert worden. Die deutsche Landwirtschaft endlich hat
den ihr notwendigen Zollschutz gefunden. Für den deutschen Arbeiter ist mehr getan
worden als in irgendeinem anderen Lande. Als vor einigen Zahren eine Deputation
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