Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. IV. Ostmarkenpolitik. 119 
  
vor beinahe einem Zahrtausend begonmnen, heut noch nicht beendet ist, ist nicht 
nur das größte, es ist das einzige, das uns Deutschen gelungen ist. Riemals in der 
Weltgeschichte ist um eine Kolonisation von solchem Umfange weniger Blut geflossen, 
weniger Gewalt geschehen, als um diese. Das gilt besonders von der deutschen Koloni- 
sation im ehemaligen Polen. Jahrhundertelang haben hier die vielfach von den polnischen 
Königen ins Land gerufenen deutschen Kolonisten als treue polnische Untertanen gelebt 
und sind den Polen Lehrmeister höherer Kultur gewesen. Auch die Zeiten, in denen die 
Heutschen in Polen bedrückt und nicht selten entrechtet wurden, wissen nichts von deutscher 
Auflehnung in Polen zu melden. Als die Polen selbst sich schließlich außerstande zeigten, 
ein staatliches Leben zu erhalten und der starke preußische Rechts- und Ordnungsstaat 
Teile ehemals polnischen Reichsgebietes unter seine Herrschaft stellte, da war in diesen 
Gebieten schon jahrhundertelang deutsche Kulturarbeit geleistet worden. Es geschah 
das Seltene, daß die Aufrichtung staatlicher Herrschaft der kolonisatorischen und kultur- 
rellen Erwerbung nicht voraufging, sondern nachfolgte. Die staatliche Einverleibung 
unserer Ostlande Posen und Westpreußen wäre nicht erfolgt und hätte nicht erfolgen 
können, wenn die polnische Adelsrepublik ein lebensfähiges Staatswesen gewesen wäre. 
Als die Einfügung in die deutsche Herrschaft des preußischen Staates erfolgte, wirkte 
sie wie eine späte, eine verspätete politische Znanspruchnahme des Rechtes, das die 
deutschen Bewohner Westpreußens und Posens durch ihre kulturellen Leistungen längst 
geschaffen hatten. Ganz abgesehen davon, daß wenn Preußen die Oeutschen in Polen 
nicht unter deutsche Herrschaft gestellt hätte, sie unter russische Herrschaft gekommen 
wären. 
Unsere Ostlande sind unser deutsches Neuland. Trotzdem sie um Menschenalter 
früher staatlich einverleibt worden sind als Elsaß-Lothringen und Schleswig-Holstein, 
sind sie doch jüngere nationale Errungenschaften. Zm Westen zumal ist nur alter deutscher 
Reichsbesitz staatlich zurückgewonnen worden, Besitz, in dem die deutschen Kaiser schon 
unbestritten geboten, als sich östlich der Elbe weder ein deutsches Schwert mit dem wen- 
bischen gekreuzt hatte, noch ein deutscher Pflug in wendischen Boden gesenkt war. Dies 
Neuland im Osten, erobernd betreten in der Zeit höchster deutscher Reichsmacht, mußte 
uns bald staatlich und vor allem national Ersatz werden für verlorenes altes Land im 
Westen. „Es hat eine Zeit gegeben,“ sagte ich im Januar 1902 im preußischen Abgeord- 
netenhause, „wo man sehr tief Atem schöpfen mußte, wenn man vom heiligen Reich 
sprach, wo das Deutsche Reich im Süden und Westen weiter reichte als heute. Wir denken 
nicht daran, diese Zeiten zurückzuwünschen; wir denken nicht daran, unsere Grenzen in 
irgendeiner Richtung vorschieben zu wollen. Aber das, was uns die Vorsehung gewährt 
hat als Entschädigung und Ausgleichung für anderweitige Verluste, unseren Besitzstand 
im Osten, müssen und werden wir festhalten.“ 
Von weither gesehen möchte die deutsche Bewegung von Ost nach West und wieder 
nach Ost als etwas Einheitliches, etwas Ganzes erscheinen. Im 7. Jahrhundert haben 
wir Deutschen alles Gebiet rechts der Elbe geräumt und sind weit hinübergedrungen 
nach Westen bis tief hinein nach Frankreich. Holland, Flandern, Brabant, Burgund, 
Luxemburg und die Schweiz waren deutsches Reichsgebiet, waren zum Teil national- 
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