Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
1. Buch. IV. Ostmartenpolitit. 125 
  
Der Versuch, die Polen durch Sonderrechte dem preußischen Staat zu gewinnen, 
wurde wiederholt in dem Jahrzehnt nach der im Jahre 1840 erfolgten Versetzung Flott- 
wells von Posen nach Magdeburg und fand seine Krönung durch die gescheiterte sogenannte 
mnationale Neorganisation“ Posens. Man gedachte in der Weise zu „reorganisieren“, 
daß man den östlichen, mehr polnischen Teil der Provinz Posen von dem westlichen, 
mehr deutschen schied und ihn völliger Polonisierung anheimgab. Die Polen verlangten 
vollendete Autonomie in der ganzen Provinz, ähnlich derjenigen, die Ungarn heut in 
der Habsburgischen Monarchie besitzt. Die Deutschen der Provinz gerieten in leiden- 
schaftliche Erregung über den drohenden Verlust ihrer Nationalität. Das Ergebnis des 
unseligen Versuchs war eine bis dahin noch unbekannte Erbitterung der beiden Na- 
tionalitäten im Osten gegeneinander. 
Nach jahrzehntelanger, in den sechziger und siebziger Jahren durch die mühevolle 
Gründung und Konsolidierung des Reiches verursachter Gleichgültigkeit gegenüber dem 
Nationalitätenkampf im Osten, setzte Bismarck im Jahre 1886 mit seiner groß angelegten 
nationalen Ostmarkenpolitik ein, nachdem er 1872 die staatliche Schulaufsicht für Posen 
und 1875 die deutsche Sprache als Unterrichtssprache eingeführt hatte. Die Ara Flott- 
well hatte nur erst eine nationale Korrektur der Ostmarkenpolitik sein können. Mit Bis- 
marck setzte der bewußte Kampf um das Deutschtum in den Ostmarken ein. Bis dahin 
war man aus der Defensive nicht herausgekommen. Unter Bismarck begann die nationale 
Offensive des preußischen Staats, um das Deutschtum im Osten zu retten, zu erhalten 
und, wenn möglich, zu stärken. Ee ist selbstverständlich, daß die Polen in leidenschaftliche 
Bewegung gerieten, daß sie sich zur Wehr setzten und mit ihren mustergültigen Organi- 
sationen, nicht selten unterstützt vom polnischen Klerus, den Kampf aufnahmen. Der 
Nationalitätengegensatz gewann an Schärfe. Die Ostmarkenpolitik zog ihre Kreise über 
die gesamte Parteipolitik, da das Zentrum den polnischen Glaubensgenossen zur Seite 
trat und der Freisinn glaubte, es seinem Programm schuldig zu sein, in den nationalen 
Maßnahmen der preußischen Ostmarkenpolitik nichts als Ausnahmemaßregeln zu sehen, 
die mit den doktrinären Freiheitsbegriffen in Widerspruch stehen. Es ist richtig, daß 
durch die nationale Ostmarkenpolitik unser innerpolitisches Leben nicht bequemer ge- 
worden ist, daß wir ein neues Moment des Kampfes und der Unruhe hinzuerhielten, 
daß die großpolnische Propaganda unter den Polen Preußens allgemeiner und heftiger 
geworden ist. Die Gegner der preußischen Ostmarkenpolitik, die deutschen wie die pol- 
nischen, argumentieren oft und gern mit dem Hinweis auf die Beunruhigung, die er- 
weckt worden ist durch die von Bismarck selbst und später in seinem Geist geführte nationale 
Ostmarkenpolitik. Eine solche Argumentierung trifft nur die allgemeinpolitische Schale, 
nicht den nationalen Kern der Polenfrage. Sie besagt nichts anderes als jenen ebenso 
bequemen wie billigen Gemeinplatz, daß in der äußeren wie in der inneren Politik 
stets Ruhe und Frieden zu haben sind, wenn niemals ein Ziel erstrebt wird, das nur 
unter Kämpfen und Schwierigkeiten zu erreichen ist. Solche Ruhe ist stets in der 
Politik ziemlich mühelos erreichbar. 
Die Frage der Ostmarkenpolitik ist die: Sollen wir zugeben, sollen wir durch Un- 
tätigkeit dazu beitragen, daß die Ostlande, d. h. Posen, Westpreußen und gewisse Teile von 
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