Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
10 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
bildung sein muß. „Wenn die Entwicklung der Dinge es verlangt,“ so sagte ich damals, 
odaß wir über Bismarckische Ziele hinausgehen, so müssen wir es tun.“ 
Die Entwicklung der Dinge aber hat die deutsche Politik längst hinausgetrieben aus 
der Enge des alten Europa in die weitere Welt. Es war nicht ehrgeizige Unruhe, die uns 
drängte, es den Großmächten gleichzutun, die seit lange die Wege der Weltpolitik gingen. 
Oie durch die staatliche Wiedergeburt verjüngten Kräfte der Nation haben in ihrem 
Wachstum die Grenzen der alten Heimat gesprengt, und die Politik folgte den neuen 
nationalen Interessen und Bedürfnissen. In dem Maße, in dem unser nationales Leben 
ein Weltleben geworden ist, wurde die Politik des Deutschen Reichs zur Weltpolitik. 
Im Jahre 1871 sammelte das neue Oeutsche Reich 41 058 792 Einwohner in seine 
Grenzen. Sie fanden Nahrung und Arbeit in der Heimat, und zwar besser und leichter 
als zuvor, unter dem Schutze verstärkter nationaler Macht, unter vielfältig durch die 
Reichsgründung erleichterten Verkehrsbedingungen, unter den Segnungen der neuen 
allgemein-deutschen Gesetzgebung. Im Jahre 1900 aber war die Bevölkerungszahl 
auf 56 367 178, heute ist sie auf mehr als 65 000 000 angewachsen. Oiese gewaltige Volks- 
masse konnte das Reich in seinen Grenzen in der alten Weise nicht mehr ernähren. Die 
Bevölkerungszunahme stellte dem deutschen Wirtschaftsleben und damit auch der deutschen 
Politik ein gewaltiges Problem. Es mußte gelöst werden, sollte der Uberschuß an deutscher 
Kraft, den die Heimat nicht zu erhalten imstande war, nicht fremden Ländern zugute 
kommen. Im FJahre 1885 wanderten etwa 171 000 Deutsche aus, 1892 waren es 116 339, 
1898 nur noch 22 921, und bei dieser letzten niedrigen Anzahl ist es seither durchschnitt- 
lich geblieben. Es konnte Deutschland also im Fahre 1885 einer um 20 000 000 geringeren 
Menschenzahl weniger gute Ezistenzbedingungen gewähren als gegenwärtig seinen 
66 000 000 Reichsangehörigen. In dem gleichen Zeitraum ist der deutsche Außenhandel 
von etwa 6 Milliarden Mark Wert auf 19,16 Milliarden gestiegen. Welthandel und Volks- 
ernährung stehen in unverkennbarem Zusammenhange. Selbstverständlich viel weniger 
durch die eingeführten Nahrungsmittel selbst als durch die vermehrte Arbeitsgelegenheit, 
die die mit dem Welthandel verbundene Industrie zu gewähren vermag. Die Ent- 
wicklung der Industrie in erster Linie hat das dem nationalen Leben durch die Be- 
völkerungsvermehrung gestellte Problem der Lösung zugeführt, unbeschadet der durch 
das überraschend geschwinde Entwicklungstempo älteren Gebieten des volkswirtschaft- 
lichen Lebens vorerst zugefügten Nachteile. Die enorme Vermehrung und Vergrößerung 
der industriellen Betriebe, die heute Millionen von Arbeitern und Angestellten be- 
schäftigen, konnte nur erreicht werden dadurch, daß sich die Industrie des Weltmarktes 
bemächtigte. Wäre sie heute noch angewiesen auf die Verarbeitung der Rohstoffe, die 
der Kontinent liefert und auf den europäischen Markt für den Absatz ihrer Fabrikate, 
so könnte von den modernen Riesenbetrieben nicht die Rede sein, und es wären Millionen 
Deutscher, die heute unmittelbar durch die Industrie ihren Lebensunterhalt haben, 
ohne Lohn und Brot. Nach den statistischen Erhebungen wurden im Jahre 1911 
Rohstoffe für Industriezwecke im Werte von 5393 Millionen eingeführt und fertige 
Waren ausgeführt im Werte von 5460 Millionen Mark. Hierzu kommt eine Ausfuhr 
von Rohstoffen, vor allem Bergwerkserzeugnisse im Werte von 2205 Millionen. Nah- 
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