Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. Schlußwort. 135 
  
sönlicher Anhänglichkeit an ihren Träger, sondern auch, weil ich in ihr den Eckstein in 
Preußen und den Schlußstein des Reiches sehe. 
Was uns ODeutschen politisch fehlt, das ist nicht zu erringen durch Veränderungen 
auf dem verfassungerechtlichen Gebiet. In den Parteien, denen vermehrte Rechte zugute 
kämen, fehlt es ja selbst noch vielfach zu sehr an politischem Urteil, politischer Schulung und 
Staatsbewußtsein. Noch steht in Deutschland eine große Summe der Gebildeten, denen 
ja die Führung im Parteileben gebührt, dem politischen Leben gleichgültig, wenn nicht 
gar ablehnend gegenüber. Sehr Uuge und gelehrte Männer betonen oft mit einem ge- 
wissen Stolz, daß sie von Politik nichts verstehen und auch nichts wissen wollten. Die Un- 
kenntnis der allerelementarsten ODinge des Staatslebens ist oft erstaunlich. Die Zeiten sind 
vorüber, in denen es für das Staatswohl nichts ausmachte, ob die Nation etwas von den 
Gesetzen verstand, die ihr gegeben wurden. Das Geschäft der Gesetzgebung liegt heut nicht 
mehr allein in den Händen mehr oder minder fach- und sachkundiger Beamter, sondern das 
Parlament arbeitet mit. Aber die Tätigkeit der Fraktionen vollzieht sich auch in unseren 
Tagen oft noch kaum anders als die ehemalige reine Beamtentätigkeit: bei vollkommener 
Verständnis- und Urteilslosigkeit weiter Kreise der Bevölkerung. Bei wirtschaftlichen Fragen 
regen sich wohl die Interessengruppen in Landwirtschaft, Handel und Industrie, bei 
einigen Spezialfragen regen sich die für die speziellen Dinge eigens gegründeten Vereine, 
aber im allgemeinen läßt man das Diktum der Parlamentarier mit der vollen Passivität 
des beschränkten Untertanenverstandes über sich ergehen. Wird dann das fertige Werk am 
Leibe gespürt, so setzt eine herbe Kritik ein, die sich aber auch nur auf den Einzelfall be- 
schränkt, ohne eine Belebung des politischen Verständnisses zur Folge zu haben. Die 
aktive Anteilnahme am Gange der politischen Geschäfte, die fehlt uns Deutschen, eine 
Interessiertheit, die nicht gelegentlich des in mehrjährigen Zwischenräumen wieder- 
kehrenden Wahlkampfes erwacht, sondern sich befaßt mit den großen und kleinen Fragen 
des staatlichen Lebens. Sache der Gebildeten ist es, diese politische Erziehung in die 
Hand zu nehmen, Sache der geistigen Führer, denen kein Volk so willig folgt, wie das 
deutsche. Die lässige Gleichgültigkeit geistig und ästhetisch empfindsamer Naturen gegen- 
über dem politischen Leben, die vor Zeiten einmal unschädlich war, ist heut nicht mehr am 
Platz. Die Gegenwart, die voll ist von ernsten und großen politischen Aufgaben, die in 
den Parlamenten eine Teilnahme des Volkes an den Staatsgeschäften geschaffen hat, 
braucht ein politisches Geschlecht. Und Regierungspflicht in dieser Gegenwart ist es nicht, 
dem Parlament neue Rechte zu schaffen, sondern die politische Teilnahme des Volkes 
in allen seinen Schichten zu wecken durch eine lebendige, national entschlossene, in ihren 
Zielen große, in ihren Mitteln energische Politik. Die Kritik, die jede Politik, die nicht farb- 
los ist, auslösen muß, ist kein Schade, wenn auf der anderen Seite positives Interesse ge- 
weckt wird. Das Schlimmste im politischen Leben ist die Erstarrung, die allgemeine schwüle 
Windstille. 
Die Ruhe ist nur dem gestattet, dem keine Pflicht mehr zu erfüllen bleibt. Kein 
Volk kann das von sich sagen. Am wenigsten das deutsche, das vor so kurzer Zeit erst einen 
neuen Weg zu neuen Zielen beschritten hat. Die Zahl der Aufgaben, die wir seit 1870 ge- 
löst haben, ist doch klein neben der Zahl derer, die ihrer Lösung noch harren. Wir dürfen 
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